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Etikettenschwindel

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Im Mittelalter trug ein Ritter -also ein Mann, der etwas auf sich hielt — auf der Brust oder auf der Schulter ein Tüchlein mit den Farben einer Dame, deren Ruhm er verbreiten wollte. Vor wenigen Jahrzehnten - als die Allgemeinbildung noch gefragt war—trugen junge Damen, die eventuell einen Doktor heiraten wollten, ein Buch von Tolstoi, Balzac oder Thomas Mann mit sich herum.

Heute trägt ein Mann, der auf sich hält, irgendein Kriechtier oder den Namenszug einer vornehmen Firma auf der Brust und die imagebewußte junge Dame eine Handtasche mit teurem Markenzeichen.

Wenn Boris Becker, die Fußballer oder andere Sportler an allen sichtbaren Stellen mit Firmennamen beschriftet herumlaufen, ist es in Ordnung, denn sie werden dafür gut bezahlt.

Warum sollen aber wir Normalbürger mit Firmenzeichen auf Kleidung oder Utensilien für jemanden Werbung machen, obwohl wir dafür keinen Groschen bekommen?

Man könnte sich vielleicht noch einigen, wenn man mir im Laden sagen würde: „Der Hersteller hat das Hemd mit einem Schriftzug beziehungsweise einem Tierbild auf einer sichtbaren Stelle verunziert. Wenn Sie es nehmen, kriegen Sie dreißig Prozent Preisnachlaß.“

Es ist aber genau umgekehrt: Für das Etikett muß der Käufer teuer bezahlen! Oft kostet das Etikett mehr als die Ware selbst, manchmal sogar ein Vielfaches. Früher haben die Firmen mit der Qualität ihrer Ware geworben, heute werben sie mit Markenzeichen. Das Etikett steht aber nur für den Preis, nicht für die Qualität, mag sie auch durchaus vorhanden sein. Qualität zeigt sich von allein, sie braucht kein Zeichen, das Zeichen braucht keine Qualität.

Mich machen Etiketten vornehmer Firmen in doppeltem Sinne mißtrauisch: Ich bezweifle die Qualität der befirmten Klamotten; denn, wenn eine Jacke oder ein Hemd gut sind, wozu brauchen sie dann noch einen Stempel?

Und ich bezweifle die Qualität des Menschen, der unbedingt allen zeigen will, daß er sich teure Sachen leisten kann — auch um den Preis, daß er für das Etikett fünfmal soviel bezahlt hat wie für das Hemd und daß er der Firma unentgeltlich Reklame macht.

Man kann nämlich mit allem Etikettenschwindel treiben — mit Wein, mit Kleidern, mit Menschen und mit der Politik.

In jenen Ostblockländern, in denen private Kleinproduktion erlaubt ist, blüht das Geschäft mit geschmuggelten Etiketten westlicher Konfektionsfirmen. Sie werden zum Beispiel in Mäntel eingenäht, die in Lodz hergestellt wurden — so ein Mantel hat dann den drei- bis vierfachen Preis.

Warum es in der Konsumhungergesellschaft Osteuropas so funktioniert, kann man verstehen. Und wenn in unserer Gesellschaft des gesättigten Konsums ein Etikett als Statussymbol gilt, ist das auch verständlich. Einen einigermaßen anständigen Anzug kann sich fast jedermann leisten. Wer zeigen will, daß er mehr als Jedermann ist, kauft sich dazu ein Etikett.

In Amerika gibt es den umgekehrten Schwindel: Konfektionäre klauen Ideen berühmter Modeschöpfer und bringen die Modelle in Massenanfertigung und in anständiger Qualität für einen Bruchteil des Preises auf den Markt. Allerdings mit einem Billigetikett.

Für die Urheber der Modelle ist es natürlich ärgerlich — als Autor kann ich den Ideenklau nicht billigen —, als Verbraucher würde ich aber die billige Nachbildung kaufen, weil es mix um eine bequeme und schöne Hose geht, nicht um das Etikett.

Selbst wenn ich mir auf die Stirn den Namen „Einstein“ eingravieren ließe, verstünde ich doch nichts von der Relativitätstheorie: und irgendein gepanschter Wein wird nicht dadurch besser, daß man ihn aus einer Flasche mit hundertjährigem Etikett einschenkt.

Es gibt jedoch viele Menschen, denen die Flasche wichtiger ist als der Inhalt und die das Markenzeichen auf ihrem Hemd mehr schätzen als sich selbst. Davon profitieren jene Firmen, die ihnen gutes Geld dafür abnehmen, daß sie für die Firma Werbung machen dürfen.

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