6804394-1971_50_12.jpg
Digital In Arbeit

Tanzende Derwische

Werbung
Werbung
Werbung

Eng aneinandergereiht, mit lang- samem, bemessenem Schritt, betreten zwölf junge Derwische den Saal. Der weite Umhang, in den sie verhüllt sind, ist schwarz wie das Grab, ihre Gewänder sind weiß wie das Leichentuch, auf dem Kopf tragen sie hohe, spitze Filzhüte, Wahrzeichen der Grabstellen. Hinter ihnen, als letzter, das Oberhaupt, der Sheikh, Vermittler zwischen Himmel und Erde. Ein schwarzer Shawl, um seinen Turban gebunden, läßt ln ihm den Würdenträger erkennen. Eine tiefe Verbeugung bedeutet Gruß an die Gemeinde, dann läßt er sich nieder auf einem Teppich, dessen rote Farbe den Untergang der Sonne symbolisiert, die den Himmel am 17. Dezember 1273 verfärbte, als Djalad-el-Din Rumi, Günder der Mevlewi-Sekte und unsterblicher Dichter, in Konya starb.

Die Jünger hocken, in Meditation versunken, ein Sänger verkündet den Ruhm des Propheten, dann ergeht sich eine Flöte in ausgedehnten, reich verzierten Improvisationen. Auf ein Zeichen des Sheikhs erheben sich die jungen Leute, entledigen sich ihrer schwarzen Tücher, umkreisen dreimal den Raum, denn „dreifältig ist der Weg zu Gott: der Weg der Wissenschaften, der Weg der Visio nen und der Weg, der die letzte Vereinigung herbeiführt“.

Der Sheikh erteilt ihnen die Erlaubnis zum Tanz, und während sie sich, einer nach dem anderen, mit eng über der Brust verschränkten Armen, in sich selbst versunken und gegen die Außenwelt abgeschlossen, zu drehen beginnen, öffnen sich ihre Arme, und zum Rhythmus der Trommeln und Pfeifen beginnen sie sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, die rechte Hand gen Himmel geöffnet, um von oben her göttliche Gnade zu empfangen, die linke Hand abwärts gewandt, um sie an die Welt weiterzugeben.

Wie Ähren schwanken die Gestalten, schwingen wie Blüten im Sommerwind, geben sich rückhaltlos und mit verzückten Gesichtern der Trance hin, völlig entrückt, der Schwere enthoben, in einer erdfernen Dimension: Planeten, die sich um die Sonne und um sich selbst drehen. Die Zeremonie versinnbildlicht das Gesetz des Weltalls, die Trommeln mahnen an das Jüngste Gericht. Dreimal kommt „Sama“, der kosmische Tanz, zu einem Ende, beim vierten Male nimmt auch der Sheikh daran teil, wieder improvisiert die Flöte, höchste Vereinigung ist erreicht, der rituelle Reigen kommt plötzlich zu einem Stillstand. Die jungen „Sufis“ kleiden sich in ihre asketischen Wolltücher, verschränken die Arme auf der Brust, hocken nieder und lauschen, nach innen gekehrt, der Rezitation des Korans, vollziehen den letzten Gruß, die letzte Anbetung, verlassen gemessenen Schrittes den Raum.

„Die Welt des Islams“ nannte Paul Keeler das Festival, das er für das Institute for Contemporary Arts veranstaltete. Vorlesungen und Ausstellungen behandelten mohammedanische Kunst, Dichtung, Wissenschaft, Literatur und Geschichte. Den Höhepunkt bildete zweifellos die Darbietung der „Drehenden Derwische“ aus Anatolien. Sie gestaltete sich zu einem einzigartigen Erlebnis, das man nicht so bald vergessen wird.

• Wilhelhi Stäedel, Altbischof der evangelischen Landeskirche in Rumänien und einer der führenden Repräsentanten der deutschen Jugendbewegung in Siebenbürgen zwischen den beiden Weltkriegen, starb in Marburg im Alter von 81 Jahren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung