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Abschiedssy mphonie

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Die Begebenheit, die ich erzählen will, trug sich in dem letzten Kriegsjahre zu, da das Gesicht unserer Städte erst verhältnismäßig selten von schrecklichen Bombenwürfen entstellt wurde. Die Stadt jedoch, in der sie sich ereignete, wurde auch davon nicht betroffen: es war Prag, wo im Jahre 1944 das Leben so wenig wie kaum in einer anderen Stadt Mitteleuropas gestört wurde, eine Stadt, vom unmittelbaren Kriegsgeschehen auf eine glückliche und zugleich seltsame Weise verschont und nur gelegentlich durch eine oder die andere düstere Nachricht berührt, die mancher Familie zuging, deren Angehörige in die Scharen der Kämpfenden gedrängt wurden.

Was Wunder, wenn diese Stätte von so vielen besucht wurde, die sonst ihren Urlaub unter der milden Sonne des Südens oder an den weitgedehnten, schweigenden, nur vom Rauschen der Brandung erfüllten Küsten der Nordseebäder verbrachten und nun Sammlung in den Straßen dieser Stadt fanden, deren prächtige Bauten’’ den alten Geist hochgezüchteter Kultur atmeten, deren Plätze den innern Blick zurückwandern ließen in Zeiten, die von weit ausgreifenden geschichtlichen Ereignissen erfüllt waren, deren stille, träumerisch versponnene Gärten und Parkanlagen noch ganz die Illusion einer friedlichen Gegenwart zu vermitteln wußten. Nicht zuletzt fanden auch Künstler und Gelehrte hier eine ungestörte Arbeitsstätte und suchten gerne die vornehme Ruhe der Archive und Bibliotheken auf. So war es nur folgerichtig, daß in diesem Sommer jenes buen- retiro die Abhaltung von Musikfestwochen möglich machte, deren Programm in weitem Bogen die Schöpfungen unserer abendländischen Musik umspannen sollte.

Die Reihenfolge der festlichen Veranstaltungen ging ihrem Ende zu. Und nun fand das letzte Konzert statt, für das man das Wallenstein-Palais ausersehen hatte. Hier, in diesem prächtigen Palais am Fuße des Hradschin, das sich ein stolzer Geist, der selbst nach der Kaisermacht strebte, prunkvoll und in großzügiger Planung erbaut hatte, fanden sich nun — zum letzten Male in dieser Saison — die Musikbegeisterten zu einem ausschließlich Joseph Haydn gewidmeten Abend ein. Man hatte dazu den Barocksaal des Palais gewählt, einen nicht zu großen Raum, der der Veranstaltung einen fast intimen Charakter lieh, einen Saal voll ebenmäßiger Architektonik, und sparsam, aber mit vornehmer Würde ausgestattet. Hier saßen nun die festlich gestimmten Zuhörer, lauschten den von einem kleinen Kammerorchester musizierten liebenswürdigen Werken, und nur manchmal schweifte das Auge zu dem Deckenfresko, das, die Innenarchitektonik höchst wirksam krönend, den Gott Mars darstellte, wie er seine wild schäumenden Rosse durch einen grell zuckenden, von dräuenden Gewitterwolken bedeckten Himmel hindurchlenkt. Man konnte leicht erkennen, daß Mars selbst die Züge Wallensteins trug.

In der Pause promenierte man in den zum Palais gehörenden Gärten. Es war ganz dunkel, doch dies auf eine Sommernächten eigene Weise: weder war es die dichte Finsternis des Winters noch die trübe der Herbstnächte noch die unruhige des Frühlings. Hell glitzerten die Sterne am weiten, samtenen Himmelsgewölbe, licht schimmerte da und dort ein Frauenkleid zwischen den dunklen, leise rauschenden Büschen, schwach erglänzten die kiesbedeckten Pfade. Nur am westlichen Horizont schob sich eine Wetterwand empor, drohend stieg sie langsam auf, doch niemand achtete auf sie noch auf die ersten, vereinzelt fallenden warmen Tropfen — so friedlich war das Gemüt gestimmt in dieser warmen, duftenden Sommernacht. Hier, zwischen den schmalen Baumreihen, neben den Brunnen mit den Sandsteingöttern, unter den hohen Bogen der Salla terrena, im Gemüte noch den Nachklang heiterer Musik, bemächtigte sich der Seele eine freudige Harmonie.

Doch man begab sich bald wieder auf die Plätze und nun schloß der Abend mit der Abschiedssymphonie des Meisters, die wohl auch als Symbol für das Ende reicher, schöner Musikfestwochen gedacht war, doch für viele der Zuhörer noch tiefere Bedeutung gewann. Mittlerweile war das Gewitter herangekommen. Das erste Grollen des Donners klang dumpf und nur von ferne in die heiteren Melodien Haydns, die ersten Blitze zuckten, ihr gelbes Licht fiel durch die in der Höhe des Raumes angebrachten Scheiben und wurde von Spiegeln zurückgeworfen, die an der gegenüberliegenden Saalwand in gleicher Flöhe angebracht waren, um so eine zweite Fensterreihe vorzutäuschen: eine Eigenheit, die das Barock liebte.

Es ist eine kleine Anekdote aus dem Leben Haydns bekannt, nach der er samt seiner Kapelle vom Fürsten Esterhazy verabschiedet werden sollte. Am letzten Abend hatte sich Haydn nun eine Ueberraschung für seinen Gönner ausgedacht. Seine Musiker, die zum ersten Male eine neu komponierte Symphonie des Meisters zu Gehör brachten, hatten von dem launigen Maestro den Auftrag bekommen, mit dem Schlüß ihres Parts gleichzeitig die beiden Kerzen, die ihr Pult beleuchteten, zu löschen und sich leise aus dem Raum zu entfernen. Dies wurde so auch durchgeführt. Der überraschte und betroffene Fürst fragte Haydn, der zum Schluß mit zwei Geigern allein musizierte, was denn dies zu bedeuten habe. Dieser antwortete: „Das ist mein Abschied, Exzellenz! Worauf ihn Esterházy gerührt in die Arme schloß und die Entlassung zurückgenommen war. Das auf so denkwürdige Weise aufgeführte Werk würde später die „Abschiedssymphonie“ genannt.

Jedermann kennt diese Anekdote. Um nun die Wiedergabe dieser Symphonie besonders wirksam und stimmungsvoll zu gestalten, wollte man auch hier, im Palais Wallenstein, das gleiche ausführen. Zwar trugen Dirigent und Musiker nicht mehr Zopf und Perücke, nicht mehr das spitzenverbrämte Kostüm der Zeit, nicht mehr enge, knielange Hosen und Schnallenschuhe. Doch hatte, bei ganz verdunkeltem Saale, jedes Pult eine brennende Wachskerze, die nun, mit dem letzten Ton des jeweiligen Parts, verlöschte und von dem sachte sich entfernenden Spieler hinausgetragen wurde.

Mittlerweile war das Unwetter über der Stadt zur Entladung gekommen. Durch die geschlossenen Fenster gedämpft, brachen die Blitze gleichsam als kriegerische Fanfaren in die Harmonie dieses Abends, leise klirrten die Scheiben im Widerhall des Donnerrollens, fahl züngelte der Widerschein des Wetterleuchtens über die Deckenmalerei des Saales. Und unten, im Dunkel, durch eine Balustrade leicht erhöht vom übrigen Zuschauerraum, saßen die zwei letzten Spieler mit ihren Instrumenten, stand der Dirigent, und in der freundlichen Beleuchtung zweier letzter Kerzen spielten sie ihr wehmütiges, versponnenes, süßes Abschiedslied, versonnen klang der Ton der beiden Geigen, doch bald verstummten auch sie, und es erloschen die Flammen, während noch der letzte Ton im Raume nach- klang.

Gewiß, vielen der Zuhörer war dies ein stimmungsvoller Abschluß. Und vielleicht war einer oder der andere darunter, der etwas mehr als ein halbes Jahr später, als er seine geliebte böhmische Heimat auf so schmerzliche Weise verlassen mußte, sich daran erinnerte und erkannte, daß er schon damals Abschied genommen hatte; denn dieses Schauspiel, war es nicht wie ein Symbol dafür, daß wir wenigen, denen ein glücklicheres Geschick es ermöglichte, uns von der Furie des Krieges, von Untergang und den Tränen der Verzweiflung ferne zu halten, nun den Abschied von dieser unverdienten Friedlichkeit zu nehmen hätten? Manch einer wird diese bange Vorahnung vielleicht gefühlt haben. Und doch: unter dem kühnen Kriegsgott und seinen dampfenden Pferden, beim Toben des Unwetters, in allem Aufruhr der Naturgewalten, saß eine kleine Gemeinde, voll inbrünstigen Verlangens nach Frieden und nach der Rückkehr in die Bereiche einer viele Jahrhunderte alten Kultur und gab sich dem Zauber Haydnscher Melodien hin. Und dahinter stand die Ahnung einer besseren und größeren Zeit und vielleicht auch die Vorahnung vom Aufhören des Völkerringens und von neuen Schöpfungen des Geistes, die über dieses Chaos hinweg den alten, uns gemäßen Weg fortsetzen würden, gleichwie unter einem gewaltigen Regenbogen, der die Horizonte verbindet und versöhnt, manche Hügel noch im Schatten liegen, indes sich das strahlende Licht immer weiter und stärker ausbreitet, bis es zuletzt doch die ganze Weit der Landschaft beherrscht.

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