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Hassans Reich des Terrors

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Vier Nachtlager hatten Omar Khajjam und sein rothaariger Dragoman hinter sich. Das Bergland der Mula-hed im Elbursgebirge konnte nicht mehr allzuweit sein. Seit Tagen glaubten sie jeden Abend, bevor die Sonne sank, schwankende Schilfmeere, grünblaue Dattelpalmenwälder und dunkelrote Bergspitzen aus der Wüste aufragen zu sehen. Beide konnten nicht entscheiden, weder Omar, noch der Rothaarige, ob sie einer Fata Morgana ausgesetzt waren, aber ob sie wirklich das Elbursgebirge vor sich hatten. Am fünften Abend, als sie in einem recht elendem Khan Rast machten, glaubten sie sich nicht mehr zu täuschen: verschiedenste Schattierungen aus Braun, Rot, Schwarz gliederten einen massiven Gebirgszug, der sich nun tatsächlich aus der Ebene erhob, und der keine Luftspiegelung darstellte. Zwar wuchsen schnell fliehende Gazellen am Horizont noch immer ins schier Unermeßliche und verflossen dann gespenstisch ins Nichts, aber die Reisenden im Khan und der Wirt bestätigten ihnen — die Berge waren echt. Das also war das ersehnte, oder sollte Omar sagen: das gefürchtete? — Elbursgebirge, das Herrschaftsgebiet Hassans. Die Straßen waren hier schlecht, die Dörfer arm, die Menschen verängstigt. Das Wort des Sultans war hier leerer Schall, die Verordnungen des Wesirs Nizam al Mulk wertloses Papier, in den Moscheen sprach kein Mullah das Gebet für den Herrscher der Rechtgläubigen. In diesem Norden des Reiches wurde nichts gelesen, nichts

Schriftliches verordnet. Hier herrschte Hassan ben Sabbah. Mord war hier Gesetz.

Omar, auf der schmalen Lehmbank des Khans sitzend, überdachte alle diese Nachrichten, die ihm nun seit vielen Wochen und Monaten nach und nach zugekommen waren. Hier, mitten im Reich Hassans, sprach keiner mehr ein Wort über ihn, oder seine Sieger, seine Tiger, seine Al-Fatah! Das kleine Rasthaus war gesteckt voll Menschen. Die Nacht drohte kühl zu werden, niemad wollte im Freien schlafen, nicht einmal die Kameltreiber. Schalen voll Reis, der von Schaffett triefte, wanderten im Kreis rundum. Dünne Brotfladen wurden von Hand zu Hand gereicht. Schnell und gewandt ergriffen gebräunte und — wie Omar etwas angewidert feststellte — mitunter sehr schmutzige Hände nach den kleinen Fleischstücken im Topf. Omar nahm nur wenig zu sich. Er sah sich die Gesichter der Menschen in dem engen Raum an: die blitzenden, dunklen Augen, die wenig gepflegten Barte, die kräftigen, gebogenen Nasen: es waren Gesichter mutiger, lebenserfahrener Männer. Ihre Münder aber schwiegen. Sie kauten, schmatzten rülpsten. Aber kein Gespräch entstand, keiner erzählte, keiner prahlte. Man war vorsichtig in diesem Khan. In einer Ecke des Raumes hatten zwei Hadschii es sich gemütlich gemacht; der eine hatte seinen Kopf mit einem rotweißen Turban bedeckt, der andere mit einem grünweißen. Omar zweifelte, ob es Rechtgläubige waren. Sollten

es „Tiger“ sein? Ihm zunächst saß eine Gruppe langbärtiger Männer, die flache Käppis und langes Haar trugen. Diese begannen leise miteinander zu flüstern, wurden dann lauter und sprachen endlich sogar erregt.

Sie redeten in einem Dialekt, -den Omar als aramäisch erkannte, den er aber nur zum Teil beherrschte. Dennoch verstand er, worum es den Männern ging. Sie diskutierten einen Vorfall, der in einer Stadt (deren Namen Omar zunächst nicht erfuhr) ausgebrochen war. Daniels Sarg, der Sarg des Propheten, war aus seiner Gruft herausgehoben, und von eifernden Moslems in ihren Stadtteil überführt worden. Langsam ver-

stand Omar, daß es sich entweder um Hamadan oder um Susa handelte, wo man die Juden um diese kostbare Reliquie gebracht hatte. Die Moslems, die Daniel auch als ihren Propheten verehrten, hatten den Toten geraubt. Omar mischte sich ins Gespräch und hörte, Tutschuk Da-wud, ein Seldschukenprinz, den Schah Malik nach dem Westen gesandt hatte (er sollte in Anatolien mit den Leuten aus Rum verhandeln) hatte zufällig, auf der Durchreise, eine sehr seltsame Entscheidung getroffen. Da sowohl die Juden, wie die Moslems, den Sarg Daniels für sich beanspruchten und den Propheten in ihrem Stadtteil verehren wollten, und keine Partei der anderen die Grabstätte gönnte, ließ der Prinz die mumifizierte Leiche in einen Glassarg legen und, da glücklicherweise ein Fluß die feindlichen Stadtviertel trennte, an jedem Ufer hohe Pfosten errichten. Den Glassarg band er an starke Seile und ließ ihn über den Strom hieven. Mitten zwischen den beiden Stadtteilen, zwischen jüdischem und moslemischem Viertel, hoch über dem Fluß, schwebte nun Daniels Sarg. Von beiden Flußufern konnten ihn die Gläubigen nun verehren, getrennt und voneinander gesondert. Daniel, der Prophet, war somit beiden Parteien sichtbar, keiner jedoch ausschließlich angehörig. Die Rabbinnen, die ihm dies wutentbrannt und verärgert erzählten, bereisten nun die einzelnen jüdischen Gemeinden im Reich, um sie zu Protesten gegen diese prinzliche Maßnahme zu überreden. Omar fand die Geschichte eher erheiternd: Dawud war ein kluger Prinz, und überdies hatte er selbst mit Hand angelegt. Er fand Dawuds Entscheidung geschickt; die Rabbinnen aber beklagten sich, daß bis jetzt keine Gemeinde sich ihrem Protest anschließen wollte. Keine hatte die Absicht, es sich mit Schah Malik, dem Vater des Prinzen, zu verderben. Omar hatte die Rabbinnen im Verdacht, daß sie Hassan um Hilfe angehen wollten. Aber auch er war schon so weit, den Namen Hassans nicht auszusprechen. Um die Juden jedoch zu beruhigen, wies Omar darauf hin, daß die Moslems in Ekbatana doch Esthers Grab, das Grab jener großartigen Frau, die den Juden wie eine Löwin erschien, hoch in Ehren hielten, und daß die Seldschuken Wallfahrten zu diesem berühmten jüdischen Heiligtum in Persien nie unterbunden hätten.

„Was ist Esther gegen Daniel!“ sagte der älteste der Rabbis traurig. Omar gelang es nicht, die Erregten zu beruhigen. Da konnte Omar nicht anders, als ein wertig listig zu fragen: „Bei wem sucht ihr denn wirklich Hilfe? Bei Hassan?“

Und setzte hinzu: „Kennt ihr ihn? Habt ihr ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen?“

„Wißt ihr nicht, daß es gefährlich ist, seinen Namen zu nennen? Jeder hier in dieser Karawanserei kann

einer seiner ,Tiger' sein! Sein Name sei nicht genannt!“ Dann versank der Rabbi in ängstliches Schweigen.

Omar verstand, was der Terror bewirkte. Er verschreckt die Menschen. Er macht ihr Leben zugleich aufgregend, spannend. Terror ist wie Rauchgift. Nicht nur, daß die Terroristen unter Drogeneinfluß töteten: Terror erregte die Massen. Erregte auch die, die von ihm nicht betroffen waren. Terror ist das Unheil, das dauernd, das unentwegt, das latent existiert — und sich in seiner überraschenden, plötzlichen Aktion offenbart. Terror ist das Unheil, das jeder Mensch als beständig wirkend, als im Verborgenem lauernd annimmt: und da tritt es hervor, im Mord, im Überfall, manifestiert sich in einem Tiger, einem Hassasinen. Das Böse, das unfaßbar, ungreifbar, in uns, um uns, immerwährend da ist, es bekommt Gestalt. So ist, dachte Omar, jeder Terrorakt nicht nur ein Verbrechen, eine Untat, sondern zugleich eine Bestätigung des Reiches der Finsternis. Eine Aufforderung, die Welt des Lichtes zu erweitern ... Terror macht für die Nicht-Betroffenen das Leben reizvoller, ihr Schicksal aufregender.

Bei Anbruch der Morgenröte, nach dem Gebet, brachen die Karawanen auf. Auch Omar und sein Dragoman machten sich reisefertig. Omar, dessen Gedanken vorauseilten, der sich ganz auf das Zusammentreffen mit Hassan einstellte, sah und hörte zwar, was um ihn herum vor sich ging, nahm es aber nicht wirklich wahr.

Die Pferde gingen langsam. Die Reiter gelangten an den Eingang einer Schlucht, durchritten sie und erreichten sanftgrünes Weideland, das ein Bach durchfloß. Entlang dieses klaren Bergwassers führte sie der Pfad in einen Talkessel, der von hohen Felswänden gegen Ost und West abgeschlossen war. Nach Norden zu wies er einen tiefen Einschnitt, eine Art Paß, auf, von dort her blies ihnen eine kühle, wie ihnen schien, meeresfeuchte Brise entgegen. Omar, der Zeltmacher und der rothaarige Dragoman hatten seit vielen Tagen nichts anderes erfahren, als Steine, Staub, Sand und Hitze bei Tag, Kälte bei Nacht. Sie waren ja immer am Südrand der großen Nadelwälder geritten. Nun, inmitten des Hochgebirges, in diesem Gebirgstal, fanden sie sich in einem Garten, der nur mit den prächtigsten Parks, den Gärten von Schiras, von Nishapur, den Parkanlagen der sagenhaften Stadt Iram, von denen die Märchenerzähler schwärmten, verglichen werden konnte. Palmen standen neben Nadelbäumen, Tamarisken neben Eiben, weiß-schwarz-grau glänzende Birken, rotglühende Buchen. Seltsame Farne, buntblühende Sträucher, überraschend exotische Blumen — alles das zeugte davon, daß hier kundige Hände einen Garten Eden hervorgezaubert hatten.

Ihr Reitpfad geleitete sie durch eine Thuijengruppe und endete an einer von Säulen flankierten Spitzbogenpforte, deren Tore aus einem engmaschigem, goldglänzendem Gitterwerk bestanden. Omar dachte sarkastisch, wie sehr Klischeevorstellungen des Prunks und der Repräsentation selbst auf Rebellenführer ihren Einfluß ausübten. Sie schienen erwartet worden zu sein: Das Tor wurde geöffnet, zwei Männer in Kettenpanzern hießen sie, von den Pferden zu steigen. Der rothaarige Dragoman sprach mit den Wächtern so, als ob er sie seit je kenne. Omar nahm dies auch an, er hatte es schon in Isphahan am Basartor gewußt, daß dieser Mensch einer von Hassans Männern war; so, wie er hier jetzt begrüßt wurde, mußte er zu den engsten Vertrauten gehören. Ihm gegenüber waren die Wächter freundlich, baten ihn, in ihr Torwächterhaus einzutreten, und zuzuwarten, bis er abgeholt werde. Er befand sich nun, wie er bemerkte, innerhalb eines ummauerten Gebietes, einem ebenso schönen wie prächtigen Garten, wie dem, den sie eben durchritten hatten. Dieser Teil freilich war nach architektonischen Grundsätzen angelegt, überall sah er kleine Pavillons, Kioske, auch Zelte. Und vor allem: zahlreiche junge Männer, die, wie es den Anschein hatte, nichts anderes taten, als sich zu erholen.

Ein weißgewandeter Jüngling kam nun auf ihn zu, und bat Omar, ihm zu folgen. Als er an den Pavillons

vorbeikam, sah er prächtig gekleidete junge Leute, die Schach spielten, Hanfpfeifen rauchten, oder auf üppig mit Polstern ausgestatteten Lagern schliefen. Weiter hinten erstreckte sich eine gepflegte Rasenfläche, auf der Polospieler edle Pferde hetzten. Die den Zenit nahezu erreichende Sonne tauchte das glänzende Bild dieses zauberhaften Gartens in vollstes Licht. Unter all diesen jungen Männern fühlte er, daß er der einzige ältere, der einzige „Alte“ war.

Unvermittelt stieg in ihm das Gefühl totaler Unwirklichkeit auf. War das Realität, was er erlebte, sah, was er hörte, oder war das ein Traum? Ist das, fragte sich Omar halb ironisch, halb ernsthaft, einer jener Träume, die wir Orientalen, wir Perser, wir Araber uns erfinden, um unseren Alltagserlebnissen zu entfliehen? Wir sind zweifellos die begabtesten Dichter, die findigsten Literaten, die ausschweifendsten Märchenerzähler, die es gibt. Und Hassan, was ist dann Hassan? Mein Schul-und Studienfreund, der immer so verschlossen, so unzugänglich war? Was ist er, der solche Träume in Wirklichkeit verwandelt. Denn, daß er in diesem Garten Eden zu Fuß wandelte, hinter dem weißgewande-tem Jüngling ging, in die Zelte und Kioske spähte — das war Wirklichkeit. Sie durchschritten eine dichtere Baumgruppe und kamen auf eine kleine Lichtung. Unvenschleiert, halbnackt, ohne jede Hülle, lagen hier junge hübsche Frauen in den Armen von Jungmännern, lachten, scherzten, kosten und umschlangen einander in körperlicher Vereinigung. Der Jüngling ging an dieser sich ekstatisch gebärdenden Schar ungerührt vorbei. Omar empfand zwar die Scham und die Scheu desjenigen, der, wider Willen, Zeuge sexueller Vereinigung anderer wird, bezwang aber seine Empörung, als er sah, daß die Männer und Mädchen in einer Art von Trancezustand agierten. Als Arzt fragte er sich sofort, ob diese schamlosen Ekstatiker nicht etwa intoxiert, durch Drogen gedopt seien, und er nahm sich vor, Hassan zu fragen, welche Art von Rauschgift, in welchen Dosen, neben Haschisch, er seinen „Tigern“ verabreichen lasse. Omar und der Jüngling umgingen dann noch eine Gruppe von Rosensträuchern und standen dann am Fuße einer steilen Treppe, die so viele Stufen aufwies, daß Omar in seine alte Gewohnheit verfiel, sie zu zählen. Nach dreihundert Stufen betraten sie die Burg Alamut, und Omar war es, als ob er in ein Gefängnis, in eine Grabkammer trete, so dunkel und unheimlich wirkte das Mauerwerk. Durch verwinkelt verlaufende Gänge kam er dann in ein lichtes, achteckiges Gemach, mit hohen, schmalen Fenstern, in dem sich nichts befand, als Teppiche, ein paar Kissen, zwei Wasserpfeifen, ein kleines Tischchen. Omar, gleichermaßen gespannt, nun endlich Hassan zu sehen, wie ermüdet, durch das Stufensteigen, setzte sich. Der Jüngling trat ans Fenster. Im selben Augenblick trat ein etwa Fünfzigjähriger herein, spitzbärtig, ein Mann mit einem energischen, unregelmäßigen Gesicht. Das linke Auge und die linke Braue lagen höher als das rechte Auge samt Braue. Der Mund war verkniffen. Omar stand nach fast fünfundzwanzig Jahren seinem Jugendfreund gegenüber: dem berüchtigtsten Terroristen, dem Manne, der die Todeskommandos erfunden hatte, und der die Welt damit in Schrecken versetzte. Dieser Mann befahl mörderische Gewalttaten, die Geiselnahmen, die Attentate, die West und Ost erzittern ließen, in Angst und Schrecken versetzten. Erkannte er im Gesicht des Fünfzigjährigen den Jugendfreund? Ja. Er war es, der mehr als hundertfache Mörder. Dieser Mann war sein Freund, sein Schulfreund gewesen: Omar ibn Khajjam, der Astronom, Mathematiker, der Poet und Arzt, der Günstling des Schah — das war er: und der Mann da, ihm gegenüber, Hassan ben Sabbah, was war er heute? Omar wußte — dies ist der gehaßteste Mann der Welt: aber er empfand keinen Haß. Er sah im Gesicht des Fünfzigjährigen das Gesicht des Schulbuben, des Studienfreundes, den er geliebt hatte. Und nun glaubte selbst Omar, daß dies alles ein Traum sein müsse, daß nichts an ihrer Begegnung wirklich sei.

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