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Sie tanzen 14 Tage lang

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Sobald die Derwische von Mitte Dezember an wieder zwei Wochen lang in Konya tanzen dürfen, verändert sich das Bild dieser normalerweise stillen und verträumten anatolischen Stadt mit ihren gerade 205.000 Einwohnern, mehrheitlich Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten. Gruppenweise tauchen devisenstarke fremde Besucher auf. Vor allem aber rattert Autobus um Autobus herbei, und halb Anatolien und Thrazien scheinen sich hier ein Stelldichein zu geben.

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Sobald die Derwische von Mitte Dezember an wieder zwei Wochen lang in Konya tanzen dürfen, verändert sich das Bild dieser normalerweise stillen und verträumten anatolischen Stadt mit ihren gerade 205.000 Einwohnern, mehrheitlich Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten. Gruppenweise tauchen devisenstarke fremde Besucher auf. Vor allem aber rattert Autobus um Autobus herbei, und halb Anatolien und Thrazien scheinen sich hier ein Stelldichein zu geben.

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Mustafa Kemal Atatürk, der 1938 in Istanbul starb, hätte diese Völkerwanderung zu einem Zornesausbruch hingerissen. Bekanntlich erstrebte der Gründer und Erste Präsident der türkischen Republik eine Verwestlichung seines Landes. Tekken (Klöster), aber auch die Derwische hielt er für Wahrzeichen der finstersten Reaktion. 1924 machte ein Gesetz damit Schluß und verhängte gegen jede Zuwiderhandlung hohe Strafen. Genau dreißig Jahre später wurde das Gesetz durchlöchert. Eine religiösen Bräuchen und Traditionen mehr zugeneigte Regierung wagte es zwar noch nicht, die Tekken wieder zu öffnen. Immerhin wurde aber den Derwischen in Konya das Recht zugestanden, wieder alljährlich vierzehn Tage hindurch ihre Wirbeltänze oder „Sema“ — Sema bedeutet Himmel — öffentlich vorzuführen. Als Vorwand benutzte man die Touristenattraktion. Tatsächlich überwiegen jedoch die frommen Pilger, die wahrlich keine Folklore herbeilockt, um ein Vielfaches.

Warum aber gerade Konya, obgleich die tanzenden Derwische in ganz Anatolien ihre Tekken unterhielten, und weshalb der Dezember? Wollte die Regierung durch diesen Schritt eine breitere Plattform gewinnen, dann hatte sie keine Alternative. Für den türkischen Moslem ist Konya so heilig, daß die Reise dorthin sogar eine Fahrt nach Mekka und Medina ersetzen kann.

Sein hohes Prestige verdankt Konya an erster Stelle Dschelal-Eddin Rumi, der an diesem angeblich seit neuntausend Jahren bewohnten Ort den „Orden der tanzenden Derwische“ gründete. Der Dezember ist sein Geburts- und Todesmonat. Generationen nach ihm übte der Orden immer noch einen hervorragenden politischen Einfluß aus. Während der osmanischen Ära war es ein Privileg des höchsten Scheichs, jeden neuen Sultan mit dem Schwert Osmans, des Begründers der Dynastie, zeremoniell zu umgürten. -

Dschelal-Eddin Rumi, von seinen Jüngern respektvoll „Mewlana“ (Unser Herr) genannt, hatte die Philosophie des Ordens klar umrissen: „Es gibt viele Wege, Gott kennenzulernen. Ich habe den Tanz und die Musik gewählt.“ Im alten Kloster mit der berühmten türkisfarbenen Kuppel wird diese Art von Gottesdienst nicht mehr ausgeübt. Vielmehr ist die große nüchterne Sporthalle zum

Schauplatz des Derwischfestes geworden. Trotz des zahlreichen Publikums herrscht dort lautlose Stille während der drei spannungsgeladenen Wirbeltänze.

Ausnahmslos leben heute die Derwische „auf Zeit“, also nicht mehr in einer Tekke. Nur die Alten wissen noch Genaueres über die strengen Ordensregeln, die Jüngeren — der Benjamin zählt sechzehn Jahre — kennen gerade noch den rituellen Tanz. Es sind Theologiestudenten darunter und einer, der gleichzeitig Konyas bester Radrennmannschaft angehört. Keiner'braucht sich mehr irgendwelcher Askese oder gar der lOOltägigen Kasteiung zu unterziehen, die einst Voraussetzung für die Aufnahme in den Orden war.

Beim zweiten Tanz werfen die Derwische ihre Mäntel ab — die Flucht aus der irdischen in eine rein geistige Welt. Diesmal verneigen sie sich nicht nur vor dem Scheich, sondern küssen ihm auch die Hand. Während ihre weißen Röcke zunehmend wilder herumwirbeln, scheint sich der Körper von aller Erden-schwere zu befreien. „Gott sehen“ ist die Grundidee.

Etwa je zwanzig Minuten haben diese beiden „Tanzandachten“ gedauert, mit einer nur kurzen Pause dazwischen. Es folgt die dritte, viel längere Sema. Von Sekunde zu Sekunde steigert sich der Rhythmus. Wie im Raum verloren, hört sich am Schluß die Melodie der Ney an. Das Ziel ist erreicht — die seelische Vereinigung mit dem Allmächtigen.

Dschelal-Eddin-Rumis literarisches Werk hat im deutschen Kulturkreis starken Widerhall gefunden. Goethe übersetzte einen Vers und Friedrich Rückert die schönsten Gedichte.

Bevor sich die Anatolier in ihren ratternden Bussen wieder von der unendlichen Steppe verschlucken lassen, hat jeder von ihnen auch das herrliche Mewlana-Mausoleum, Museum und heilige Stätte zugleich, besucht. Betend ist er siebenmal um die hier aufgebahrten Reliquien geschritten. Mancher hat auch einen Stein vom Boden aufgehoben, ihn verstohlen an einer Mauer des Mausoleums gerieben und nach Hause mitgenommen. Wahrscheinlich legt er dieses kostbare Erinnerungsstück unter oder neben das obligatorische Bild Atatürks, der den Mewlanakult abschaffen wollte.

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