6628179-1956_21_18.jpg
Digital In Arbeit

Die Pendeluhr

Werbung
Werbung
Werbung

Pendeluhren sind eine aussterbende Uhrenrasse. Ueberlegen Sie doch einmal selbst: haben Sie im Laufe der letzten zehn Jahre eine Pendeluhr gekauft? Vermutlich nicht. Haben Sie eine Armbanduhr gekauft? Vermutlich ja. Dabei hat beides mit Kriegsverlusten etwa gleichviel zu tun: Armbanduhren ließen sich gegen eventuelle Zugriffe im Jahr 1945 sogar noch leichter schützen als Pendeluhren gegen Bombergeschwader.

Was sich heute an Pendeluhren herumtreibt, ist daher größtenteils von ehrwürdigem Alter: es sind die Pendeluhren der Großelterngeneration, dezimiert durch natürlichen Verschleiß und Luftkrieg. Gewiß, zuweilen schafft man — teils aus Pietät und teils aus Geschmacksgründen — eine neue Pendeluhr an, aber die allgemeine Entwicklung geht in anderer Richtung.

Der Zug der Zeit fordert Konzentration: die Eisenbahn ist zu langsam geworden und so wird die Reisezeit nun vom Flugzeug konzentriert; Lebensmittel sind zu stark wasserhaltig und so werden sie zu dehydrierten Pulvern konzentriert; Opern sind zu lang und so werden die wichtigsten Arien aus zwei Opern auf einer einzigen Langspielplatte konzentriert. Ein alter Graf-Bobby-Witz berichtet davon, wie Graf Bobby auf der Kärntner Straße einen Dienstmann trifft, der eine Pendeluhr schleppt. Graf Bobby schüttelt verwundert den Kopf, hält den Mann an, zieht seine Taschenuhr und näselt: „Sehn S', das is praktisch!“ Unterdes ist aber selbst die Taschenuhr lange schon „konzentriert“ worden, und alle Reklame- und Neuheitsanstrengungen werden fast ausnahmslos bei den Armbanduhren gemacht.

Da gibt es automatischen Aufzug, wasserdichte Gehäuse, garantiert wasserdichte Gehäuse, staubdichte Gehäuse und garantiert staubdichte Gehäuse, 15, 17 und 21 Steine (von denen die vornehmsten sich Rubis nennen), Leuchtziffern, Zentrumsekunden, Datumsanzeige und Spezialausführungen für Tropenoffiziere, Röntgenlaboranten und Techniker, die im Bereich starker Magnetfelder arbeiten. Vermutlich wird es bald auch Spezialarmbanduhren geben, die entweder gegen Atomstrahlung unempfindlich sind oder bei Explosion einer Wasserstoffbombe Klingelzeichen geben — damit jeder weiß, daß die Stunde geschlagen hat.

Die Pendeluhr hat das alles nie gekonnt und nie gebraucht und so scheidet sie allmählich aus einer Welt, die sie nicht mehr versteht. Gewiß, die Sekunden der Pendeluhr dauerten nicht länger und nicht kürzer als jene Sekunden, die nun nach Kristallschwingungszahlen oder ähnlich berechnet werden; die Minuten der Pendeluhr dauerten nicht länger als die Minuten der Stoppuhr auf der Autorennbahn. Aber das Hin- und Herschwingen des Pendels wirkte viel gemütlicher als das Fünftelsekundenhasten des spinne-fingrigen Sekundenzeigers in der Armbanduhr. Sie mußte sich freilich auch noch nicht um den Gongschlag kümmern, sondern konnte unbekümmert zwei Minuten vor oder zurückgehen.

Natürlich gibt es neben den kleinen Armbanduhren auch noch große Uhren: Bahnhofsuhren etwa, mit riesigen Leuchtstoffröhren als Zeiger. Die Mittelmaßgröße,, die Familienpendeluhr, aber tickt sich langsam zu Tode. Auf die Frage „Wie spät ist es eigentlich?“ blickt nicht mehr die gesamte Familie auf die linke Speisezimmerwand, sondern auf das linke Handgelenk — jeder auf sein eigenes. Und statt „es wird halb vier“, heißt es, „15,27“, „15,29“ und „15,32“, bis das Zeitzeichensignal des Telephons unparteiisch erklärt: „15,31“ oder aus dem UKW-Funk die Stimme des Ansagers der gespannt lauschenden Oeffentlichkeit verkündet: ,,In zehn Sekunden, beim Gongschlag .. .“

Es ist rückschrittlich und sinnlos, Dingen nachzutrauern, die, einem höheren Zeitgesetz folgend, zugrunde gehen. Auch macht sich Großvaters Pendeluhr in einer Kleinwohnung mit Bad, Gasstrahler und Einbaukasten ein bißchen merkwürdig. Aber es wäre doch ein großer Verlust, die alte Pendeluhr zum Trödler zu bringen — weit mehr als nur ein finanzieller Verlust.

Denn während die Armbanduhr stets nur meldet, daß wir keine Zeit mehr haben, versichert die Pendeluhr tröstlich, daß wir immer noch Zeit haben. Selbst wenn die Zeiger auf beiden Uhren in der genau gleichen Stellung stehen ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung