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Es gibt kein Zurück!

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„Ich finde, daß Leitungskader, die eine überaus verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben, deren Arbeitstag länger als der normale ist, ein gewisses moralisches Recht darauf haben, Konsumgüter ohne Schlangenstehen zu erwerben. Es kommt aber darauf an, daß die ihnen gewährten Privilegien einen offenen Charakter tragen und nicht vor dem Volk verborgen werden.

Es ist auch wichtig, daß sich die Versorgung der Leitungskader weder durch ein besseres Sortiment' noch durch niedrigere Preise vom staatlichen Einzelhandel unterscheidet. Erst dann wird diese Sonderschicht die Bedürfnisse und Probleme des Volkes wirklich kennenlernen und sich innerlich mit dem Volk identifizieren. Dabei werden die leitenden Funktionen nurnochhalb so attraktiv sein, sodaß wirklich fachlich fähige und für diese Tätigkeit geeignete Menschen in den Apparat kommen.“

Die bekannte Moskauer Soziologin und Leiterin eines Meinungsforschungsinstituts, Tatjana Sas-lawskaja - gewissermaßen die sowjetische Elisabeth Noelle-Neu-mann -, Ideengeberin für Gorbatschow, rüttelt mit ihren Reformvorstellungen, die sehr stark von einer persönlichen Verantwortungsethik gekennzeichnet sind, kaum an den Grundfesten der Sowjetunion. Das tut ja auch Gorbatschow nicht, und es wäre naiv anzunehmen, daß irgendein Sowjet-Politiker seinen Macht- und Einflußbereich mutwillig zerstören wollte.

Reform und nicht Revolution, behutsame Analyse und Kritik und nicht radikales Infragestellen der Grundvoraussetzungen des sowjetischen Riesenreiches sind Anliegen Saslawskajas - die Parallelen zu Noelle-Neumann in der Bundesrepublik sind unverkennbar. Da wie dort geht es um die Rettung althergebrachter Werte, die man durch das Heraufziehen neuer Gesellschaftsvorstellungen und PolitGruppierungen gefährdet sieht.

Deswegen fordert die Moskauer Soziologin in erster Linie eine Kultivierung dessen, was man bisher schon - mehr oder weniger vergeblich - zu verwirklichen gesucht hat. Überwindung des Warenmangels, ein Vorhaben, das viel Zeit in Anspruch nehmen werde, ist für Sas-lawskaja daher ein entscheidender Ansatzpunkt für die „soziale Steuerung der Perestrojka“.

Faszinierend, wie die Meinungsforscherin soziale Faktoren als Hemmnis der Umgestaltungspolitik Gorbatschows erkennt, das starre Reglement der Produktion als Ursache für den größten Schaden der Perestrojka entlarvt. Saslaws-kaja plädiert für eine Vielfalt der Organisationsformen des Handels, die um das Geld des Käufers konkurrieren könnten. Daß die wirtschaftliche Umgestaltung der Sowjetunion ein Werk der Partei ist und es auch bleiben muß, steht für die klarsichtige Soziologin außer Frage.

Eine Fülle von Anregungen, aber auch Vorbehalten gegenüber der „sozialistischen Erneuerung“ (Gorbatschow) der sowjetischen Gesellschaft enthalten die dreißig Beiträge sowjetischer Schriftsteller, Publizisten, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Soziologen im Sammelband „Es gibt keine Alternative zu Perestrojka“. In drei Teilen geht es um die „Geschichte der Perestrojka“ (gegen Bürokratismus, übertriebene Rückversicherung und Inkompetenz), um einen „Blick in die Vergangenheit“ (Aufarbeitung des Stalinismus) und um die „Rückkehr zur Zukunft“ (Neubewertung des kommunistischen Ideals). Tenorder meisten Beiträge: Es gibt kein Zurück mehrl.

ES GIBT KEINE ALTERNATIVE ZU PERESTROJKA: GLASNOST, DEMOKRATIE, SOZIALISMUS. Herausgegeben von Juri Afanasjew. Greno Verlag, Nördlingen 1988. 760 Seiten, öS 374,40.

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