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Der große Irrtum

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Es gibt, keine Vorstellung, die die profane Literatur mehr entstellt, herabwürdigt, beschmutzt und verunstaltet hätte als die Vorstellung von der Vereinigung und dem Bund zwischen Mann und Frau. Der große Irrtum in der Auffassung der meisten Schriftsteller von diesem mit Geheimnis umgebenen Gefühl läßt sich in zwei Worte zusammenfassen, die nicht minder bezeichnend sind für die ganze Kunst und das ganze Denken des 19. Jahrhunderts: nämlich Frivolität und Kräftevergeudung. Niemand zweifelt daran, daß mit dem Auftreten der christlichen Religion die Liebe so gut wie jedes andere Gefühl ihrer Natur nach nicht zerstört, sondern zu ihrer Vollendung gebracht wurde, um damit ihre verborgensten Absichten zu erfüllen und um ihr durch die Gnade eine Tiefe und Kraft zu verleihen, deren sie von sich aus nicht fähig ist. Die Liebe, die Zustimmung, die zwei Menschen einander aus freien Stücken geben, erschien Gott etwas derart Großes, daß er daraus ein Sakrament gemacht hat wie aus Taufe und Eucharistie; ein Sakrament, das nur einmal gewährt wird und wie das Gesetz ewige Wirkungen hervorruft, die unauflöslich sind, es sei denn durch den Tod, und uns in eine Umschließung versetzt. Dieses Gefühl ist so reich, daß ein ganzes Leben nicht ausreicht, es zu ergründen, geschweige denn für die gegenseitige Erforschung zweier Kinder Gottes, wie sie in einer vollkommenen Gemeinschaft der Güter und Opfer vor sich gehen soll.

Der unwiderrufliche Charakter der Liebe entspricht so vollkommen unseren Instinkten, daß selbst die leichtfertigsten Menschen niemals von Liebe sprechen, ohne zugleich von Ewigkeit zu sprechen. Diese Schwüre, deren Frivolität sprichwörtlich ist, nimmt Gott bei der Eheschließung beim Wort. Er hört den Mann und die Frau an, die ihn als Zeugen anrufen und vor ihm das feierliche Ja aussprechen. Hier wie überall sonst verleiht das Sakrament dem, was- bis dahin nur ein großes Verlangen unseres Herzens war, letzte Wirklichkeit.

Aus: Paul Claudel, Ausgewählte Prosa. Verlag Benziger, Einsiedeln.

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