Landschaft des eigenen Lebens

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In miniaturhaften Notizen aus Wien verdichtet Ilse Aichinger Zeitgeschichte und ihre eigene Welt.

Das Nahe und Alltägliche, ein aufgeschnappter Satz , eine Straßenecke - für Ilse Aichinger kann alles zum Zündfunken werden für Reisen in fernste Fernen, in den Kaukasus oder in die frühe Kindheit. Manchmal lässt sich die Rückreise aufschieben und es gelingt "das Glück, da zu bleiben, wo man sich eben nicht aufhält". Nichts kann diese Reisen stören außer Reiseführern mit ihren "Erlebnisgarantien". Gegen deren Parzellierung der Wahrnehmung weiß die Autorin ein Rezept: "Einmal nicht zu reisen, sondern die Landschaft vor dem Fenster oder die Landschaft des eigenen Lebens auf sich zukommen zu lassen."

Diese Landschaft wird in immer neuen Perspektiven und mikroskopischen Ausschnitten sichtbar: Schemenhaft taucht der Vater auf, den seine Büchermanie in Schulden stürzte und den Weihnachtsbaum stehlen ließ, in klaren Konturen die Mutter und die mit ihr geteilten Quartiere, unvergesslich die Großmutter aus Zauchtl in Mähren, die mit dem Lastwagen über die Schwedenbrücke in den Tod deportiert wurde. Die Familiengeschichte ist eine "Geschichte der Trennungen", die toten Angehörigen, die "mein Leben bis heute entschieden haben, auch jede glückliche Wendung", sind aufgehoben in diesen Texten.

Geschrieben hat sie Ilse Aichinger im Kaffeehaus, auf allen möglichen Papieren, vom Tagungsprogramm der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung bis zur Speisekarte oder einer zerrissenen Einkaufstasche. Der Band hat einige dieser Dokumente mitediert, einmal werden auch die "Verankerungen im aktuellen Tag" sichtbar: "Wochentag und Datum, Kinotermine, Verabredungen, Besorgungsliste, Schlaftabletteninventur, aufgeschnappte Satzfetzen". Die Umstände blitzen auf, denen diese Notizen abgerungen sind.

Immer wieder tauchen Sätze auf, wie sie nur Ilse Aichinger finden kann, beginnend mit dem Anfang, den alle Rezensionen zitieren: "Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen." Frei fließende Assoziation und radikale Verknappung prägen diese Texte, Erinnerung mäandriert, aber verliert ihren Fokus nicht aus dem Blick. Hintergrund der Beobachtungen und Widersprüche ist eine radikale Ablehnung des Lebens, die sich immer wieder auf den französischen Denker E. M. Cioran beruft; im abschließenden Interview sagt Ilse Aichinger von sich und ihrer Zwillingsschwester: "Von Anfang an waren wir beide sehr schwach, nur sind wir leider nicht gestorben." Besonders empfindlich ist sie gegen religiöses Einverständnis - da wird sie, aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem 20. Jahrhundert, auch bitter gegen Kardinal König "aus dem stillen Niederösterreich mit den sanften, einverstandenen Hügeln", der bekannte, er habe gerne in diesem Jahrhundert gelebt. Und stellt zugleich die Frage: "Die devotio moderna' setzte sich im 15. Jahrhundert durch. Aber wie und wo findet man heute die Ausgangspunkte für eine moderne Devotion, ohne wieder in Devotionalismus steckenzubleiben?"

Ursprünglich sind fast alle Texte des Bandes für den Standard geschrieben, der letzte jedoch stammt aus dem Spectrum der Presse. Dazwischen steht eine furiose Abrechnung mit Alfred Nobel und seinem Literaturpreis, den "immer wieder diejenigen, die darauf bedacht waren", bekommen haben - aus Anlass der Verleihung an Elfriede Jelinek. Das war in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen und bedeutete offenbar das Ende der Zusammenarbeit mit dem Standard. In Österreich gibt es eben klare Frontstellungen: Wen Jörg Haider menschenverachtend verunglimpft, den muss man unter Denkmalschutz stellen, wenn man sich für liberal hält. Und wer da ausschert, bekommt diese Liberalität zu spüren, auch wenn es eine Schriftstellerin von Weltrang wie Ilse Aichinger ist.

Nicht alle Texte dieses Bandes erreichen das Niveau ihrer berühmten Prosatexte, aber dass sie sich nach langem Schweigen auf dieses Abenteuer eines wöchentlichen Feuilletons eingelassen hat und ihren Blick auf die Welt in der Physiognomie Wiens Gestalt annehmen ließ, ist sensationell und hat uns seltene Edelsteine beschert, die die Ebene medialer Meinungsäußerungen weit hinter sich lassen.

Unglaubwürdige Reisen

Von Ilse Aichinger. Hg. von Simone

Fässler und Franz Hammerbacher

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2005

188 Seiten, geb., e 18,40

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