Die ewige Last der Uraufführung

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Ein bislang verschollenes Stück von Ödön von Horváth gelangte im Theater in der Josefstadt zu seiner Uraufführung: sein ehrgeiziges Frühwerk "Niemand", das schon Kongruenz zu seinen späten großen Dramen erkennen lässt.

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Ein bislang verschollenes Stück von Ödön von Horváth gelangte im Theater in der Josefstadt zu seiner Uraufführung: sein ehrgeiziges Frühwerk "Niemand", das schon Kongruenz zu seinen späten großen Dramen erkennen lässt.

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Die "Tragödie in sieben Bildern", wie "Niemand" im Untertitel bezeichnet ist, musste lange auf seine Uraufführung warten. Genau 92 Jahre nach seiner Fertigstellung und 68 Jahre nach dem Tod seines Verfassers Ödön von Horváth war es nun soweit. Herbert Föttinger, der Intendant des Theaters in der Josefstadt, hat den viel begehrten Zuschlag bekommen, das Stück, dessen Typoskript erst im letzten Jahr wiederaufgetaucht ist und durch Geschick und glückliche Umstände von der Wienbibliothek im Rathaus erworben werden konnte, an seinem Haus zur Uraufführung zu bringen. Angeblich war er bereit, größtmögliche Texttreue zu garantieren. In der Tat hält sich Föttinger bei seiner Inszenierung erkennbar zurück. Zum einen besetzt er die 24 (!) Rollen, und seien sie auch noch so klein, mit je einem Schauspieler. Für eine Saisoneröffnung allerdings gar keine so schlechte Idee, bekommt man als Zuschauer doch die willkommene Gelegenheit, ein Ensemble (beinahe) in toto zu sehen. Zum anderen lässt Föttinger immer wieder die -auch für Horváths späte Stücke bezeichnenden - umfangreichen und detaillierten Regieanweisungen durch die Figuren verlesen. Dieser V-Effekt bewirkt, wozu Föttinger als Uraufführungsregisseur sich offensichtlich verpflichtet sah, nämlich den Text immer wieder als Text durchscheinend zu machen. Diese Zurückhaltung tut dem Stück allerdings nicht nur gut. Denn der 23 Jahre junge Horváth hatte, als er "Niemand" 1924 niederschrieb, viel im Sinn. Vielleicht allzuviel Verschiedenes. Expressionistischer Furor, nietzscheanisches Philosophieren über den abwesenden Gott und Sozialkritik in einem sollte es sein, so dass ein entschiedenerer Zugriff dieser noch etwas ungekämmten Diktion dieses Stückes nicht nur zu etwas mehr Deutlichkeit verholfen hätte, sondern auch -die oberste Aufgabe des Theaters -etwas mehr Gegenwärtigkeit hätte ablauschen können.

Skulpturale Bühnenkonstruktion

Schauplatz des Stückes ist das Stiegenhaus eines Mietshauses, das im hoch aufschießenden, offenen Entwurf des Bühnenbildners Walter Vogelweider mit seinen gewundenen Treppen, angedeuteten Fluren und vergitterten Türen ein wenig wie das Monument für die III. Internationale von Tatlin erinnert. Die skulpturale Qualität wird noch dadurch unterstrichen, dass sich das Treppenhaus auf der Drehbühne unablässig dreht und die Konstruktion von allen Seiten weniger Ein-als Anblicke gewährt.

Hier versammelt Horváth sein Personal, die Spießer, die kleinen Leute, die sich eine Moral nicht leisten können, die bettelarmen Künstler, die kleinen Gauner und brutalen Zuhälter mit ihren Dirnen und die ehrbaren Fräuleins, die auch nichts haben außer ihren Körper. Der gefürchtete Eigentümer des Hauses ist ein Mann mit dem sprechenden Namen Fürchtegott Lehmann, ein Pfandleiher, als Wucherer verschrien und ein Krüppel von Kindheit an. Auf seinen Krücken kommt er kaum raus, man sagt von ihm er hätte noch nie den Wald gesehen. Als Ursula ihn heiratet, weniger aus Liebe denn aus ökonomischen Überlegungen, beschließt er, ein besserer Mensch zu werden und stürzt die Treppen runter jäh in den Tod, als sein Bruder auftaucht und ihm die Frau wegnimmt.

Die thematische Kongruenz zu seinen späteren großen Dramen ist hier zumindest schon zu erkennen: Leben ohne Gott, kleinbürgerliche Regression, die Ausweitung kleiner Vorgänge zu Menschheitsdramen, die abgründigen Liebesgeschichten. Auch Horváths Neigung, die Lebensläufe seiner Figuren, die Situationen in extrem geraffter Form, als pointierte meist auch recht unzusammenhängende Begebenheiten darzubieten, ist schon vorhanden. Ebenso sind die maskenhafte Rede, die lapidare Sprachführung, durch deren lakonischen Protokollstil Horváth auf unvergleichliche Weise Beziehungslosigkeit, Flüchtigkeit und Kontingenz erzählt, sowie die Stilbrüche und kitschigen Entgleisungen, die seine Dramenfiguren charakterisieren, in Ansätzen bereits zu ahnen.

Horváth'sche Demaskierung

Nur Horváths meisterlicher Kunstgriff, mittels eines Mittelstandsjargons die Weltanschauung der Spießer und Mittelständler zu demaskieren, weist noch nicht jene spätere Meisterschaft auf, für die er bis heute Berühmtheit erlangt hat. Auch dieses Frühwerk wird, dem ungeachtet, seinen Weg durch die Theater machen. Befreit von der Last einer Uraufführung darf man gespannt sein, was ihm Regisseure entlocken.

Niemand Theater in der Josefstadt 9., 16., 17., 18. September

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