Stets eigenwillig: Protokoll eines Lebens

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Arno Schmidt ging mit seinem Werk zwar in die Literaturgeschichte ein, von seinem Schreiben konnte er aber nur mit Hilfe von "Brotjobs“ leben.

Am 18. Januar 1914 wird Arno Schmidt in Hamburg-Hamm als zweites Kind schlesischer Eltern geboren. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie Ende 1928 zurück in den Geburtsort der Mutter: Lauban in Schlesien. In der Schulzeit entwickelt der einzelgängerische und durch seinen entschiedenen Atheismus aus den gesellschaftlichen Rollenerwartungen herausfallende Schmidt eine Reihe von Sonderinteressen, vor allem auf mathematischem und auf literarischem Gebiet; er schwärmt für die Romantik und den Expressionismus. Zu dieser Zeit entstehen als erste eigene literarische Versuche Gedichte, von denen nur wenige erhalten bleiben und postum publiziert werden; verschollen ist ein Versepos mit dem Titel "Sataspes“.

Nach dem Abitur geht Schmidt auf die höhere Handelsschule in Görlitz; ab 1934 ist er kaufmännischer Lehrling und ab 1937 graphischer Lagerbuchhalter der Greiff-Werke (Textilindustrie) in Greiffenberg. Ein nach zwei Semestern wegen befürchteter Zusammenstöße mit den Nazis abgebrochenes Mathematik- und Astronomiestudium in Breslau, das Schmidt später seiner Biographie einfügt, ist frei erfunden. Im August 1937 heiratet Schmidt seine Kollegin Alice Murawski, mit der er bis zu seinem Lebensende kinderlos verbunden bleiben wird. Das Ehepaar wohnt gemeinsam in Greiffenberg, bis Schmidt im April 1940 zum Kriegsdienst eingezogen wird.

1 Myriade Stunden Materialsammlung

In den Greiffenberger Jahren verlagern sich Arno Schmidts dichterische Ambitionen von der Lyrik zur Prosa. Gleichzeitig beginnt Schmidt mit den Berechnungen zu einer siebenstelligen Logarithmentafel, die er erst im Sommer 1948 fertigstellt; außerdem ist er bereits mit dem Zusammentragen von Daten zu einer Biographie des Romantikers Friedrich de la Motte Fouqué beschäftigt, die erst 1958 nach "1 Myriade Stunden gemeinsamer Materialsammlung“ des Ehepaars Schmidt erscheinen kann.

Den Krieg verbringt Schmidt bis Mitte Januar 1945 größtenteils als Artillerist in Norwegen. In den Schreibstuben und Baracken des Heeres schreibt er zwischen 1940 und 1944 die "Dichtergespräche im Elysium“ (1984) und eine Reihe von Prosatexten, die meisten bleiben zu seinen Lebzeiten ungedruckt. Anfang 1945 meldet sich Arno Schmidt freiwillig zur kämpfenden Front, um noch einmal Heimaturlaub zu bekommen und seiner Frau bei der Flucht aus Greiffenberg zur Seite stehen zu können; auch die wichtigsten Bände seiner umfangreichen Bibliothek bringt er in Sicherheit. Nach der Rückmeldung zum Dienst gerät Schmidt Mitte April 1945 bei Vechta in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er Ende Dezember entlassen wird. Durch die Vermittlung britischer Offiziere wird er - wie auch seine Frau - Dolmetscher an der Deutschen Hilfspolizeischule Benefeld (Kreis Fallingbostel). Ab Januar 1947 lebt Schmidt als freier Schriftsteller von einem Monatseinkommen, das unter 50 Mark liegt. In diesen Benefelder Jahren entstehen unter anderem die Erzählungen des Bandes "Leviathan“, der im Herbst 1949 erscheint; Arno Schmidt betritt als 35-Jähriger die literarische Bühne.

Gefestigter Ruf in Insiderkreisen

Ende 1950 hat Arno Schmidt im Zuge offizieller Flüchtlingsumsiedlungen Niedersachsen verlassen; er wohnt bis Ende 1951 in Gau-Bickelheim (Rheinhessen) und bis in den Herbst 1955 in Kastel/Saar. Die Produktion dieser Jahre ist außerordentlich fruchtbar; Schmidt veröffentlicht "Brand’s Haide“ (1951), "Die Umsiedler“ (1953), "Aus dem Leben eines Fauns“ (1953) und "Kosmas oder Vom Berge des Nordens“ (1955). Schmidts unerhört dynamische Prosa festigt seinen Ruf in Insiderkreisen, findet aber kaum Leser, so dass sich der von bescheidensten Mitteln lebende Schriftsteller zu verschiedenen "Brotarbeiten“ gezwungen sieht: er übersetzt Kriminalromane, verfasst anekdotische Zeitungsbeiträge ("Stürenburggeschichten“, mit den "Geschichten aus der Inselstraße“ zusammengefasst in "Trommler beim Zaren“, 1966) und schreibt schließlich ab 1955 im Auftrage des Schriftstellers und Rundfunkredakteurs Alfred Andersch zahlreiche Radioessays über vergessene und verkannte Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts (gesammelt in "Dya Na Sore“, 1958; "Belphegor“, 1961; "Die Ritter vom Geist“, 1965).

Strafverfahren und seine Folgen

Als Andersch Anfang 1955 in der ersten Nummer seiner Zeitschrift "Texte und Zeichen“ Schmidts Erzählung "Seelandschaft mit Pocahontas“ (später im Sammelband "Rosen & Porree“, 1959) druckt, handeln sich Autor, Herausgeber und Verlag damit eine Strafanzeige wegen "Gotteslästerung und Pornographie“ ein. Das Strafverfahren wird erst im Juli 1956 niedergeschlagen; bereits im Oktober 1955 ist Schmidt nach Darmstadt umgezogen, um eine Verlegung des drohenden Prozesses aus dem Einflussbereich der Diözese Trier zu erreichen. Als direkte Folge des Strafverfahrens stellen sich Probleme bei der Publikation des "Historischen Romans aus dem Jahre 1954“ "Das steinerne Herz“ (1956) ein, der - nachdem mehrere Verleger ablehnen - nur in einer entschärften Version erscheinen kann.

In Darmstadt bessert sich Schmidts finanzielle Lage allmählich, vor allem durch die emsige Produktion von Funkessays; auch die Zeitungsschriftstellerei wird mit den "Geschichten aus der Inselstraße“, deren Qualität sich mit der Zeit derjenigen der größeren Prosaarbeiten annähert, intensiviert. Nach dem Scheitern verschiedener Versuche, wieder in die geliebte Flachlandschaft Norddeutschlands zu ziehen, und der Aufgabe des Plans, nach Irland auszuwandern, erwirbt Schmidt schließlich ein kleines Holzhaus am Rande des Dörfchens Bargfeld bei Celle, in das er im Dezember 1958 umzieht. In der Weltabgeschiedenheit der Ostheide entstehen der bis dahin umfangreichste Roman "Kaff auch Mare Crisium“ (1960) und die zehn Erzählungen des Bandes "Kühe in Halbtrauer“ (1964); die Prosa legt die freche Schnoddrigkeit und den mitreißenden sprachlichen Schwung der früheren Arbeiten ab zugunsten spröderer, widerständigerer Texturen. Hier zeigt sich der Einfluss von Sigmund Freud und auch von James Joyce, dem Schmidt zu Beginn der sechziger Jahre mehrere lange Essays widmet.

Als Hauptwerk Schmidts erscheint nach langer Vorbereitung 1970 der Romankoloss "Zettel’s Traum“, dessen komplizierte Struktur der Autor in einem Rundfunkinterview (publiziert als "Vorläufiges zu Zettels Traum“, 1977) erläutert. Das gigantomanische Werk - es besteht aus 1334 faksimilierten Typoskriptseiten im Großformat DIN A3, unterteilt in drei einander kommentierende Textkolumnen, die parallel zueinander gelesen werden sollen - entsteht in 25.000 Arbeitsstunden zwischen 1966 und Anfang 1969. Schmidt schränkt in dieser Zeit alle Kontakte weitestmöglich ein, vermeidet Reisen und arbeitet ohne Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit; während der Niederschrift erleidet er die erste mehrerer Herzattacken.

Der Literaturbetrieb reagiert auf die Publikation des Buches mit Verwunderung und Ratlosigkeit; Schmidt gilt fortan als Exzentriker und Esoteriker. Der alle Dimensionen sprengende Roman schneidet ihn endgültig von breiten Leserschichten ab, macht seinen Namen jedoch bekannter denn je.

Reaktionäre Provokationen

Nach dem Erscheinen des zweiten, weniger umfangreichen Typoskriptromans "Die Schule der Atheisten“ (1972) erhält Arno Schmidt im August 1973 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt. Der Schriftsteller bleibt allerdings in Bargfeld; in seinem Namen erscheint Alice Schmidt zur Preisverleihung und verliest die Dankesrede ihres Mannes, deren rücksichtslos reaktionäre Provokationen für Entsetzen gerade unter langjährigen Schmidt-Lesern sorgen, die ihren "guten linken Mann“ der fünfziger Jahre nicht recht wiedererkennen. Arno Schmidt schließt als letzten Roman noch das Typoskriptbuch "Abend mit Goldrand“ (1975) ab; die Niederschrift von "Julia, oder die Gemälde“ (als Fragment 1983 erschienen) kann er dagegen nicht mehr beenden. Am 3. Juni 1979 stirbt er im Krankenhaus von Celle an den Folgen eines Gehirnschlags.

"Und nun auf, zum Postauto!“

Briefe von Arno Schmidt. Hg. von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach. Suhrkamp 2013. 295 Seiten, gebunden, e 29,90

Zettel’s Traum

Von Arno Schmidt. Bargfelder Ausgabe. Suhrkamp 2010. Edition der Arno Schmidt Stiftung. Studienausgabe. 1513 Seiten, 4 Bde. in Kassette, e 102,80

Im Meer der Entscheidungen Aufsätze zum Werk Arno Schmidts 1963-2009. Von Jörg Drews. edition text + kritik 2014.

281 Seiten, kartoniert, e 36,00

Arno Schmidt - Das große Lesebuch

Hg. von Bernd Rauschenbach. S. Fischer 2013. 444 Seiten, kartoniert, e 10,30

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