Literatur von einem Tausendsdenker

Werbung
Werbung
Werbung

Vor 100 Jahren, am 18. Januar 1914, wurde Arno Schmidt geboren. Sein Werk ist in seiner widerspenstigen Modernität in der Prosa nach 1945 einzigartig.

Arno Schmidt ist unter den bedeutenden deutschsprachigen Prosaschriftstellern des 20. Jahrhunderts der eigenwilligste und unter den eigenwilligen der bedeutendste. Er hat einen in seiner Radikalität fast unzeitgemäßen Sinn für literarische Traditionen mit der Auslotung neuer Darstellungsmöglichkeiten verbunden und gegen die Moden zeitgenössischer Literatur ein Werk gesetzt, dessen widerspenstige Modernität in der Prosa nach 1945 einzigartig ist. Schmidt, der der Geschäftigkeit des Literaturbetriebs beharrlich fernblieb, ist dabei dem Vorwurf, ein kauziger Sonderling mit dem Hang zum Abseitigen zu sein, mit dem Bewusstsein begegnet, dass der präzise Blick auf die Verrichtungen des alltäglichen Lebens eher ins Zentrum der Menschenexistenz führt als die tiefsinnige Betrachtung allgemeiner Probleme.

In den Prosaarbeiten, die Schmidt im Zweiten Weltkrieg schreibt, gilt, "daß Alles, was wir erleben, Wirklichkeit ist, sei es auch Traum, Bild, Büchergestalt oder sinnender Gedanke“. Wer hier von Weltflucht spricht, hätte jener konkreten Weltumstände zu gedenken, deren sich Schmidt so zu entziehen versucht. In einem Essay des Bandes "Die Ritter vom Geist“ versucht Schmidt später, die Romantik vom Vorwurf der Realitätsferne zu befreien und neu zu deuten als künstlerische Reaktion auf das Zusammenbrechen der Weltordnung. Damit benennt er gleichzeitig einen Zug seines eigenen Schaffens. Schmidt kann die Grauen des Weltkriegs schildernd nicht bewältigen und sie daher nur fliehen. Dies tut er, indem er sich den Stilen und Sujets der Romantiker annähert; den Schritt in die sprachliche Selbstbestimmung wagt Schmidt noch nicht.

Erschütterungen durch den Krieg

Das ändert sich radikal mit der Prosa, die nach dem Ende der Kriegskatastrophe entsteht. Die Frustrationen entladen sich drastisch und hochkonzentriert, die romantische Welthaltung scheint zunächst verschüttet. Statt dessen macht Schmidt nun das Erbe des Expressionismus nutzbar und durchsetzt seine Prosa mit Wortbildungstechniken, wie sie vor allem August Stramm in der Lyrik entwickelt hat. Seinen Nachkriegserzählungen vermag Schmidt eine Suggestivkraft und bildliche Eindringlichkeit zu verleihen, die von den Zeitgenossen unerreicht bleibt. Er widmet sich nun der schonungslosen Darstellung jener Desillusionierung, die gerade ihn als zartbesaiteten Idealisten so sehr erschüttern musste. Die Titelerzählung des Bandes "Leviathan“ schildert düster und hastig einen Fluchtversuch im Güterzug zu Kriegsende, der auf der Pfeilerruine einer gesprengten Brücke scheitert. Die infernalische Szenerie ergänzt der Ich-Erzähler mit der theoretischen Ableitung eines teuflischen, pantheistischen Gegengottes, der der ohnmächtig-wütenden Auflehnung gegen die Bosheit der Welt eine Stoßrichtung schafft. Mit dem "Leviathansbeweis“ wird das bereits früher formulierte "Ziel, Wissenschaft und Poesie zu verbinden“, wieder aufgenommen. Schmidts Liebe zu Logarithmen, Astronomie, Geodäsie ist keineswegs nüchterne Faktenhuberei, sondern entspringt der unstillbaren Sehnsucht nach den Unendlichkeiten der Vorstellungswelten: "Es giebt nichts schärfer Erregendes für meine Phantasie, als Zahlen, Daten, Namensverzeichnisse, Statistiken, Ortsregister, Karten“.

Schmidt wird im Kern nie zu dem Materialisten, als der er sich lange Zeit gibt; sein minutiöser Abbildrealismus dient der sprachlichen Weltbewältigung und -überwindung. Die idealistische Haltung kann und will die materielle Welt aber nicht mehr einfach negieren, sondern muss die Konfrontation mit ihr auf sich nehmen. Daraus entspringt die radikale Weltopposition Schmidts, die gegen das Wüten des leviathanischen Existenzprinzips aufbegehrt, sich aber zusehends auch gegen die konkrete gesellschaftliche Enge der Adenauer-Restauration in Deutschland wendet: Schmidt opponiert gegen moralische Scheinheiligkeiten mit der unverschleierten Schilderung des Sexuallebens; gegen den schleichenden Einfluss der Kirche mit atheistischen Tiraden; gegen die Wiederaufrüstung mit verächtlichen Polemiken wider den militärischen Geist.

Alle Nachkriegserzählungen Schmidts beziehen polemisch Stellung gegen Staat, Kirche, Militär, Justiz, Vaterland. Dem Roman "Das steinerne Herz“ ist sogar eine strukturelle Ebene eingeschrieben, die sich politisch fassen lässt; kontrastiert sind Alltagsbeobachtungen in der niedersächsischen Kleinstadt Ahlden mit solchen in Ostberlin, und die Kontrastierung nehmen die Figuren zum Anlass fast volkstümlich formulierter, scharf zugespitzter Stellungnahmen zur Ost-West-Problematik. Eine so komplexe politische Stellungnahme wiederholt sich im weiteren Werk allerdings nicht. Schon Mitte der 1950er-Jahre ist Schmidt einer auf politisch-weltanschauliche Dimensionen reduzierten Rezeption seines Werks in den "Berechnungen I“ mit der Überzeugung entgegengetreten, Aufgabe des Schriftstellers sei nicht primär die Umsetzung bestimmter Inhalte, "sondern die längst fällige systematische Entwicklung der äußeren Form“ .

Zersplitterung der nicht mehr heilen Welt

In den "Berechnungen“ entwirft Schmidt nach eigener Überzeugung "zu gewissen, immer wieder vorkommenden verschiedenen Bewußtseinsvorgängen oder Erlebnisweisen die genau entsprechenden Prosaformen“, die der Diskontinuität der Realitätserfahrung gerecht werden. Schmidt will dem Leser "schärfste Wortkonzentrate injizieren“; suggestive sprachliche Initialzündungen werden verwoben zu einem porösen Sprachgebilde. Die ästhetische Struktur der Schmidtschen Prosa spiegelt daher jene Zersplitterung der nicht mehr heilen Welt, die der Erzähler von "Aus dem Leben eines Fauns“ benennt: "Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! [...] Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer [...]: ein Tablett voll glitzernder snapshots.“

Zu Beginn der sechziger Jahre vertieft sich Schmidt in das Werk von Sigmund Freud und wird auf die Realitäten des Unbewussten aufmerksam. Fortan wendet er hintersinnige Verschreibungstechniken an, um die Unterfütterung menschlichen Handelns und Sprechens durch unterschwellige, meist libidinöse Motive sprachlich abzubilden. Seine suggestiven Techniken werden zu Appellen an die im Unbewussten abgelegten latenten Erinnerungen des Individuums an seine psychischen Urerfahrungen. Auch das Werk von James Joyce prägt Schmidt. Die Erzählungen des Bandes "Kühe in Halbtrauer“ sind hochgradig mit Doppeldeutigkeiten angereicherte mehrstimmige Sprachgebilde, die sich zwar auf ihrer Oberfläche als handlungsarme Geschichten lesen lassen, in denen aber gleichzeitig psychoanalytische und zum Teil mythologische Anspielungsnetze ausgelegt sind; das gilt besonders für "Caliban über Setebos“, den kunstvollsten, sprachlich dichtesten Text Schmidts.

Von Freud und Joyce bis "Zettel’s Traum“

Aus der Beschäftigung mit Freud und Joyce entwickelt Arno Schmidt schließlich seine "Etym“-Theorie. "Etyms“ sind für ihn sexuell aufgeladene Lautfolgen, deren Ablagerung im Unbewussten das gehäufte Auftreten klangähnlicher, aber sinnverschiedener Wörter im Sprachgebrauch zur Folge habe. Die von ihm "entdeckte“ vierte Persönlichkeitsinstanz setzt nach Schmidt sprachbegabte Künstler wie ihn selbst in die Lage, jene Etyms bewusst einzusetzen, deren unterschwelligem Einfluss Schriftsteller vom Schlage Karl Mays samt ihren Lesern ungewollt unterliegen. Die Ausbreitung dieser Theorie steht im Zentrum des Romanmonstrums "Zettel’s Traum“, dessen äußere Handlung aus nichts anderem als den Spaziergängen und Gesprächen vierer Figuren an einem Sommertag in der Ostheide besteht. Das Ehepaar Jacobi besucht mit der 16-jährigen Tochter Franziska den Schriftsteller Daniel Pagenstecher, um sich in Sachen einer Poe-Übersetzung beraten zu lassen; dies dient dem Ich-Erzähler Pagenstecher, der in fast jeder Hinsicht als Alter ego des Autors erkennbar ist, zum Anlass, das Werk Poes einer Etymanalyse zu unterziehen, die eine gewaltige Eros-Verdrängung diagnostiziert.

Aus Literatur erbaut

Zweifel an Schmidts Etymanalyseverfahren sind durchaus erlaubt, doch damit ist noch nicht viel über die ästhetische Qualität und den literarhistorischen Rang von "Zettel’s Traum“ gesagt. Ein überzeugender Ansatz zur Gesamtdeutung dieses Werks liegt auch nach gut vierzig Jahren nicht vor, und nur mühsam gelingt es, die vielfältigen intra- und intertextuellen Bezugssysteme freizulegen, deren Dichte im Spätwerk zumindest eines zeigt: Arno Schmidts Prosa entwickelt sich spätestens in "Zettel’s Traum“ zu einer Art Metaliteratur, zu Dichtung über Dichtung und aus Dichtung.

Aus Literatur erbaut, erscheint dann im Roman "Die Schule der Atheisten“ doch wieder eine handfeste, manchmal turbulente Handlung, die aber aus Versatzstücken kompiliert ist und fast nur aus vorgegebenen Materialien zu bestehen scheint. Schmidt erbaut hier als "Mosaikarbeiter“ aus vorgefundenen Kleinstbausteinen seine privaten Wortwelten. Literaturzitate gewinnen dabei an Gewicht. Diese Metaliteratur ist es, die den Weg freimacht auch zu den märchenhaften Zügen von Schmidts letztem vollendeten Buch "Abend mit Goldrand“, in dem zartes Liebesgeflüster zwischen Büchermenschen mit einem Geisterwesen mit erdig-deftigen, welthaltigen Szenen kontrastiert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung