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Hilfe für Herrn V.
Nach einer eingehenden Belehrung, die nicht vom „gesunden Volksempfinden”, sondern nur von den Bestimmungen des positiven Rechtes ausgehen durfte, haben Geschworene, stellvertretend für das österreichische Volk, einen des Mordes beschuldigten Herrn V., Alt-Belgier und Neo-Österreicher, freigesprochen. Wegen Befehlsnotstand. An die Herren Geschworenen, die uns Österreicher insgesamt vertreten und uns damit vor einer ganzen Welt als Hüter von Notstandsmör- dem, von Massenmördern bloßgestellt haben, wurden Schuldfragen gestellt. Sie sind so beantwortet worden, daß die Richter („zähneknirschend”) einen Freispruch fällen mußten. Dem Recht wurde Genüge getan.
Gesiebte Geschworene
Nicht allein das Hohe Gericht hat an die Herren Geschworenen Fragen zu stellen gehabt, auch das österreichische Volk hat nunmehr Fragen an sie zu richten, im Namen der österreichischen Ehre, im Interesse unserer Nation, die vor einer ganzen Welt den Herrn V. durch das Urteil endgültig aufgenommen hat. Die Fragen sind gerichtet an Geschworene, die vom Verteidiger genauest gesiebt gewesen sind — also nicht im Sinne der politischen Vorstellungen des Angeklagten belastet waren. An diese Geschworenen, an „unverdächtig” Klassifizierte sind die Fragen gerichtet:
• Wie viele Morde muß man begehen, um straffrei zu werden? Warum wird ein Vielfachmörder besser als ein Einzelmörder behandelt? Die kleinen Mörder werden „gehenkt”; warum nicht die großen?
• Wieso ist Mord, vollzogen in Befehlsnotstand, kein Mord? Wann ist Mord eigentlich ein Mord? Kann es nicht in Hinkunft zu einer betrieblichen Arbeitsteilung der Mörder kommen, derart, daß die einen zum Morden befohlen werden (und daher freigehen) und die anderen den Mordbefehl aus der Feme geben, wodurch sie, weil zum Beispiel kein Auslieferungsvertrag besteht, faktisch ebenso wie der gedungene Mörder freigehen?
Herr V. in der Gemeindewohnung Aber nicht nur an die „Männer und Frauen”, die im Namen ihres Volkes ja oder nein zu den Schuldfragen gesprochen haben, sind Fragen zu richten.
Auch an das Wohnungsamt der Stadt Wien:
• Tausende unserer Mitbürger sind, wie in der Budgetdebatte des Gemeinderates mitgeteilt wurde, ohne oder ohne angemessene Wohnung. Herr V. aber wohnte in einer Gemeindewohnung. Wer hat die Veranlassung für die Untervermietung an Herrn V. getroffen und auf diese Weise die permanente Subventionierung des Genannten durch die Wiener Steuerträger gesichert?
An das Innenministerium richten wir die Frage:
• Welches öffentliche Interesse hat bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft an den Herrn V. bestanden? War es der Auftrag einer dritten Macht? Oder hat Herr V. sich durch Angaben, die dem Sachverhalt nicht entsprechen, die Staatsbürgerschaft erworben?
• Herr V. ist noch vor seiner Inhaftierung dadurch aufgefallen, daß er sich neuerlich im Sinn der seinerzeitigen Mordbefehlshaber betätigt hat. Was gedenkt der Herr Innenminister zu tun, um die politische Tätigkeit des nunmehr in mancher Hinsicht gegenüber Alt-Österreichern Privilegierten zu behindern? Oder will man Herrn V. auf eine Kandidatenliste setzen und ihn immunisieren?
Ein Kollektiv stimmt ab
Jedenfalls ist durch das Urteil gegen (oder für) einen gewissen Herrn V. die Fragwürdigkeit der bisherigen Form der Einrichtung der Geschworenengerichte neuerlich erwiesen worden. Da nicht Richter, sondern ein „Es”, ein anonymes Kollektiv, über Schuld und Unschuld abstimmt, ist heute niemand für ein Urteil persönlich verantwortlich. Unser positives Recht wird da, wo über seine Handhabung durch „Volksrichter” bestimmt wird, allmählich zur Farce. Hühnerdiebe sitzen zu Weihnachten im Kotter — Mörder aber können indessen in Freiheit wegen Verkauf ihrer Story an eine Illustrierte verhandeln.
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