Es beginnt beim Sprechen

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Allein mit Zahlen, Daten, Fakten gelingt es nicht, Vorurteile abzubauen. Erst durch emotional-bewegende Erlebnisse, sagt die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak, werden festgefahrene Wahrnehmungsschemata aufgebrochen.

Die Furche: Brauchen wir Vorurteile und wozu brauchen wir sie?

Ruth Wodak: Wir haben in unserer Wahrnehmung bestimmte Modelle, mit deren Hilfe wir Menschen, Dinge, Ereignisse einordnen. Jeder und jede von uns braucht bestimmte Klischees und Vorurteile, sonst wird das Erfassen der komplexen Umwelt, die sich ja ständig verändert, schwierig. Niklas Luhman spricht z. B. von der "notwendigen Reduktion von Komplexität". Die Probleme entstehen erst dann, wenn man keine Differenzierungen mehr wahrnimmt und viel zu schnell urteilt, ohne den jeweiligen Kontext anzuschauen. Und vor allem dann, wenn sich daraus schwerwiegende Folgen ergeben.

Die Furche: Ist das überall gleich?

Wodak: Jeder und jede greift vorerst auf solche Erfahrungswerte und Stereotype zurück, die man im Laufe der Erziehung, im Elternhaus, in der Schule, durch die Medien oder sonstwo erwirbt.

Die Furche: Filtert man sich bei dem, was man hört, sieht, erlebt, nur das heraus, was Vorurteile bestätigt?

Wodak: Menschen haben sehr gute Mechanismen, empirische Evidenzen so einzuordnen, dass sie dennoch ins eigene Bild passen. Sehr oft ist es der Fall, dass negative Ereignisse weniger als Ausnahmen gesehen werden, sondern absolut das bestehende Vorurteil bestätigen. Positive Ereignisse, die dem Vorurteil widersprechen, werden dagegen eher als löbliche Ausnahme angesehen. Diese Wahrnehmungsschemata sind uns im Alltag kaum bewusst. Und es ist nicht einfach, sich selbst Rechenschaft darüber zu geben.

Die Furche: Wie können Vorurteile dann überhaupt verändert werden?

Wodak: Die Änderung kann leider nicht nur durch Aufklärung passieren, also auf kognitivem Weg: durch Daten, Fakten, Statistiken. Meist verändern sich Vorurteile durch emotional-bewegende, kathartische Erlebnisse. Das führt wirklich dazu, dass ein festgefahrenes Wahrnehmungsschema aufbricht.

Die Furche: Wo haben solche emotionalen Erlebnisse schon Vorurteile-abbauende Wirkung gezeigt?

Wodak: Es gibt sehr sinnvolle Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus. Trotzdem konnten viele Vorurteile und Klischees über diese Zeit nicht gänzlich abgebaut werden. Die Arbeit mit Zeitzeugen indes hat sich in Schulen deutlich besser bewährt. Wenn Jugendliche mit KZ-Überlebenden konfrontiert werden, kommt oft eine Katharsis, ein klärender Denkprozess zu Stande. Nach solchen emotionalen Erlebnissen entstehen Widersprüche in einem selbst. Ein Konflikt mit der vorher geglaubten Meinung tritt auf. Der muss dann irgendwie gelöst werden. Das führt dann meistens dazu, dass Leute anfangen, zu recherchieren, sich genauer zu erkundigen. Dann kommt es durch Wissen, also kognitiv, zu einer Änderung des Vorurteils.

Die Furche: Stichwort: political correctness. Kann man auch mit der Ächtung bestimmter Begriffe, Denkweisen etc. Vorurteile wegbringen?

Wodak: Nein, das ist nicht das geeignete Mittel, um Vorurteile abzubauen. Ich bin überhaupt gegen Verbote. Verbote locken immer dazu, dass man sie durchbricht. Wesentlich besser ist, zu erklären, warum Minderheiten sich gekränkt fühlen, wenn sie in einer bestimmten, abwertenden Weise bezeichnet werden.

Die Furche: Sowohl bei der Verbreitung als auch beim Abbau von Vorurteilen spielt die Sprache eine Rolle.

Wodak: Die Sprache ist ein sehr mächtiges Instrument in diesem Zusammenhang. Wir übermitteln Vorurteile schriftlich, mündlich, visuell, durch Karikaturen, Bilder etc. Bestimmte sprachliche Wendungen führen zwangsläufig immer zu Vorurteilen. Wenn ein Satz beispielsweise beginnt: "Ich habe nichts gegen Roma, aber mein Vater/Onkel/Nachbar hat erzählt, dass...", dann ist das schon ein Anzeichen dafür, dass ein negatives Vorurteil nachkommt.

Die Furche: Soll man sich vor solchen Formulierungen hüten?

Wodak: Zuerst muss jeder und jede sich bewusst werden, dass solche Aussagen zwangsläufig zur Vermittlung von Vorurteilen führen. Dazu gehören auch sogenannte "All"-Aussagen wie zum Beispiel "Alle Italiener sind ..." So allgemeine Urteile implizieren eine empirische Wahrheit, die es nie geben kann. Ein Volk, eine Gruppe, eine Minderheit ist nie so homogen, dass eine "All"-Aussage zulässig wäre.

Die Furche: Sie haben gesagt, Vorurteile helfen, Komplexität zu bewältigen. Jetzt leben wir in einer Welt, die komplexer ist als früher und die noch komplexer werden wird. Wird es daher auch mehr Vorurteile geben (müssen)?

Wodak: Zu jeder Zeit war die Welt für die Menschen komplex. Heute gibt es ja auch viele Mittel, um die Komplexität zu bewältigen. Wir haben mehr Wissen, andere, effizientere Medien, sehr viele Möglichkeiten, Wissen zu erlangen. Das hat es früher nicht gegeben (z. B. Internet). Insofern würde ich nicht sagen, dass die heutige Vielfalt dazu führt, dass man mehr Vorurteile hat als früher.

Die Furche: Werden Vorurteile in einer Wissensgesellschaft vielleicht sogar weniger?

Wodak: So optimistisch bin ich auch wieder nicht. Unser größeres Wissen bedeutet nicht unbedingt, dass wir weniger Vorurteile haben werden. Den Alltag wird jede und jeder von uns trotzdem noch vielfach mit Klischees bewältigen. Allerdings wissen wir heute viel mehr über Vorurteile, deren Genese und Folgen. In den Bildungseinrichtungen werden den Menschen wesentlich mehr Mittel in die Hand gegeben, um sich selbst auch immer wieder am Schlafittchen zu nehmen.

Die Furche: Die Werbeindustrie versucht andererseits, uns zu positiven Vorurteilen zu verführen. Ist nicht jede Marke auch ein Vorurteil?

Wodak: Eine Marke ist zunächst einmal ein Symbol. Zu einem Vorurteil wird sie erst dann, wenn behauptet wird, dieses Produkt sei das Beste von allen. Das Symbol selbst ist nicht das Vorurteil, sondern die damit verbundene Behauptung, die ohne empirische oder quasi-empirische Grundlage als wahr hingestellt wird. Und da arbeitet man viel mit jenen Stereotypen und Klischees, die unsere Welt prägen: dem Jugendkult, dem Schönheitsideal etc.

Die Furche: In der Diskussion um den angeblichen Kampf der Kulturen wurde u. a. der Vorschlag gemacht, positive Vorurteile über andere Kulturen, andere Religionen zu verbreiten. Wie finden Sie die Idee?

Wodak: Vorurteile sind üblich, und wir haben alle welche. Wenn man aber bewusst mit Vorurteilen arbeitet - egal ob mit negativen oder positiven -, ist das sicher nicht zielführend, weil falsche Information verbreitet wird. Es ist weder richtig, dass alle gut sind, noch ist es richtig, dass alle schlecht sind. Insofern vermittelt man falsche Information und das kann ja nicht der Sinn sein. Das Aufbrechen von Vorurteilen gelingt am besten durch positive wahre Geschichten, positive Biografien, durch positive Bilder.

Die Furche: Das heißt, der oder die Einzelne ist der Knackpunkt, um Vorurteile zu brechen.

Wodak: Es liegt sehr wohl am Einzelnen, es liegt aber auch in der Verantwortung der Medien, der Werbung, der Politik und der Bildungsinstitutionen.

Die Furche: Wird die Verantwortung von diesen genannten Institutionen wahrgenommen?

Wodak: Das Ziel von Bildungsinstitutionen ist, Wissen zu vermitteln. In dieser Funktion werden wir uns bemühen, eher zu differenzieren. Die Funktion von Werbung ist, Konsum zu fördern. Daher wird es schwer sein, dort Vorurteile aufzubrechen. Auch bei der Politik geht es darum, WählerInnen zu werben. Und da werden natürlich Vorurteile und "All"-Aussagen verwendet, um den Gegner abzuwerten. Das ist ein seit der Antike bekanntes und erfolgreiches Vorgehen. Es wird deshalb auch nicht leicht sein, Politiker von solchen kollektiven Aussagen, die an empirischer Evidenz mangeln, abzubringen.

Die Furche: Bleibt der gebildete Bürger, um dieses von jenem zu unterscheiden.

Wodak: Ja, es ist leider die Verantwortung der Rezipienten. Und es ist die Verantwortung von Bildungsstätten, vor allem den Jugendlichen Mittel in die Hand zu geben, damit sie in dieser Welt die richtigen Urteile fällen und differenzieren können.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

Die Linguistin Ruth Wodak lehrt am Institut für Sprachwissenschaft an der Universität Wien.

An der österreichischen Akademie der Wissenschaften gründete sie das Wittgenstein-Institut mit dem Schwerpunkt "Diskurs - Politik - Identität".

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