Nicht revolutionär, aber beachtlicher Wechsel

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Wechsel zu einem Sozialsystem, das einer offenen, demokratischen und zukunftsorientierten Gesellschaft entspricht.

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Wechsel zu einem Sozialsystem, das einer offenen, demokratischen und zukunftsorientierten Gesellschaft entspricht.

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Das österreichische Sozialsystem ist im Kern noch immer so aufgebaut, wie es in den fünfziger Jahren konstruiert wurde: Zugeschnitten auf eine Gesellschaft, in der Männer einer Erwerbsarbeit nachgehen und sich Frauen um Familie und Haushalt kümmern. Ein derart antiquiertes System bietet keine exis-tenzsichernden Antworten auf die gesellschaftlichen, arbeitsrechtlichen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahre: Keine Unterstützung für Menschen, die einer so genannten "geringfügigen Beschäftigung" nachgehen (müssen), kein Fangnetz für Scheinselbstständige, für Alleinerzieherinnen oder Frauen, die über keinen ausreichenden Pensionsanspruch verfügen, keine Integrationsangebote für Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, völlig aus der auf Erwerbsarbeit orientierten Gesellschaft gekippt sind.

Arbeitslosenunterstützung und Notstandshilfe verlieren angesichts einer durchschnittlichen Beschäftigungsdauer von 1,8 Jahren pro Dienstverhältnis zunehmend ihren Unterstützungscharakter. Abfertigungsansprüche oder Leistungsansprüche in existenzsichernder Höhe kommen oftmals gar nicht mehr zu Stande. Von den Auswirkungen von Leiharbeitsverhältnisse oder (an sich illegaler) Arbeit auf Abruf gar nicht zu sprechen.

Dem gegenüber stehen neue Erwartungen der Menschen an ihr Leben, etwa den Faktor Zeit betreffend: berufliche Auszeiten zur Weiterbildung, Betreuung von Familienmitgliedern, oder - "einfach so" - zur Entwicklung neuer Lebensperspektiven. Angesichts dieser unübersehbaren Probleme des Sozialsystems erarbeiteten die Grünen 1998 ein - auch finanziell bedeckbares - Modell einer lebenslagen- und bedarfsorientierten Grundsicherung: Grundsätzlich funktionsfähige Einrichtungen wie die Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung werden durch eine Grundsicherung erweitert und durch die Schaffung entsprechender infrastruktureller Rahmenbedingungen ergänzt. Wesentlicher Bestandteil des Modells sind Maßnahmen der Grundsicherung über staatliche Infrastruktur: * ein offen zugängliches Bildungssystem, * ein umfangreiches Aus- und Weiterbildungsangebot im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, * ein Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz, * auf eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung, * flexible Modelle der Alten- und Krankenbetreuung, sowie * die Gleichstellung unterschiedlicher Partnerschaftsmodelle, * die Garantie eines existenzsichernden Mindestlohns für Lohnarbeit, weiters * die Möglichkeit, berufliche Auszeiten mit Anspruch auf Grundsicherung zu konsumieren.

Das Modell ist wenig "revolutionär", basiert auf bestehenden Einrichtungen und bricht - zugegebenerweise - nicht unmittelbar mit der unsere Gesellschaft bestimmenden Lohnarbeitsorientierung (Lohnarbeit ist - ob wir wollen oder nicht - noch immer das zentrale Moment sozialer Integration).

Die Umsetzung eines Grundsicherungsmodells - nicht unbedingt des Grünen Modells - wäre jedoch ein beachtlicher Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik: Weg von Almosenverteilung, stigmatisierender "Bürgergesellschaftsromantik" oder blau-schwarzer Abwärtslizitation im Sozialbereich hin zu tatsächlicher Exis-tenzsicherung, Achtung der Menschenwürde, Erweiterung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation und individueller Lebensgestaltung. Ein Wechsel zu einem Sozialsystem also, das einer offenen, demokratischen und zukunftsorientierten Gesellschaft entspricht. Dieser Wechsel ist mehr als notwendig.

Der Autor ist Sozialreferent des Grünen Klubs.

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