Waldfibel Ill. - © Foto: Linda Wolfsgruber / Kunstanstifter

"Die kleine Waldfibel" von Linda Wolfsgruber: Künstlerische Baumschau

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Linda Wolfsgrubers „Die kleine Waldfibel“ ist ein wunderschönes Hybrid aus mehreren Textsorten.

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Linda Wolfsgrubers „Die kleine Waldfibel“ ist ein wunderschönes Hybrid aus mehreren Textsorten.

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Die Fibel und der Wald. Eine Textsorte und ein Topos, die in der Kinder- und Jugendliteratur gut verwurzelt sind: Hänsel und Gretel wurden im Wald zurückgelassen, die Hexe hat dort friedlich gelebt (bis Hänsel und Gretel bei ihr auftauchten). Ensel und Krete hingegen haben gelernt: Hexen stehen immer zwischen Birken. Ronja Räubertochter hat den Mattiswald gemeinsam mit Birk Borkason als Welt jenseits der väterlichen Burg(en) erforscht, Robin Hood hat im Sherwood Forrest die Homebase für sein Aufbegehren gegen den Sheriff von Nottingham errichtet. Seine mit Pfeil und Bogen ebenso geschickte Rebellen-Nachfolgerin Katniss Everdeen hat im Wald gejagt und damit in Distrikt 12 überlebt. Bevor sie in der dicht bewaldeten Arena der Hungerspiele selbst zum Freiwild wurde.

So wie das Märchen (als Ursprung zahlreicher Varianten der Fantastik) gehört auch die Fibel zu den Gründungs-Genres der Kinderliteratur. Als explizit adressierte literarische Form diente sie ab der Aufklärung der Ordnung und Aufbereitung elementaren Wissens. Darauf greift die Künstlerin Linda Wolfsgruber nun zurück – auch wenn sie nicht die Form des ABC-Buches nutzt, sondern ein Hybrid aus mehreren Textsorten schafft. Sie greift auf Aspekte von Jahreszeitenbüchern gleichermaßen wie auf Gestaltungsformen von Herbarien zurück und kombiniert diesen naturwissenschaftlichen Zugang mit einem lyrischen.

Eröffnet wird „Die kleine Waldfibel“ mit einem Gedicht von Heinz Janisch. Die darin formulierte Idee eines kindlichen Ich öffnet die Blickrichtung des Folgenden: „Heute will ich auf dem Baum wohnen / will mich mit einem Ausblick belohnen“. Dieser Ausblick wird Laub- und Nadelbäume im Wandel der Jahreszeiten ebenso umfassen wie das Ökosystem des Waldes. Von den Blüten des Rubinienbaums bis zum Preiselbeerkompott greifen die knappen Textpassagen und aquarellierten Bilder die unterschiedlichsten Aspekte des Waldlebens und daraus resultierender Ressourcen auf.

Den Hauptteil des Buches jedoch bildet eine Baum-Schau, in der faktuale Aspekte mit künstlerischen verbunden werden: Vom Berg-Ahorn bis zur Zirbe (Spurenelemente alphabetischer Ordnung sind also doch vorhanden) werden auf je einer Doppelseite mehr als ein Dutzend heimischer Bäume vorgestellt. Ihre maximal zu erreichende Höhe und ihr mögliches Alter werden notiert (die Eiche kann „bis zu 45 Meter hoch und bis zu 1000 Jahre alt werden“, die Hasel hingegen „bis zu 6 Meter hoch und bis zu 100 Jahre alt“), die Beschaffenheit ihres Holzes und ihrer Rinde beschrieben („Die Birkenrinde brennt auch in nassem Zustand, sie ist ideal zum Entfachen eines Lagerfeuers“). Die einzelnen Bäume werden im Natur- und Kulturraum verortet („Erlen besiedeln nasse, sumpfige Böden und sind in der Lage, diese zu verbessern.“) und als animale Lieblingsorte ausgewiesen („Alle Waldvögel lieben Kirschen“). Die ganz unterschiedlichen Nutzfaktoren der einzelnen Bäume werden angesprochen („Das Harz [der Lärche] wird als Zusatz für Wunderheilmittel und Salben verwendet“), auf deren Wirtschaftlichkeit wird verwiesen („Die Ruten [der Hasel] eignen sich zur Herstellung von Spazierstöcken und Armbrustbögen“).

Obwohl aus mehreren dieser Hölzer Zeichenkohle hergestellt wird, nutzt Linda Wolfsgruber sehr viel zartere, malerische Mittel, um die filigranen Blätter und Samen in den unterschiedlichen Grün- und Brauntönen abzubilden und durch zahlreiche weitere Details bildlich zu ergänzen. Raupen oder Hirschkäfer krabbeln über die Seite der Eiche, denn „Hirschkäfer lieben alte Eichen, sie trinken den Baumsaft und das Hirschkäferweibchen legt die Eier in morsche Wurzelstöcke.“

Den ganz besonderen künstlerischen Effekt jedoch erwirken zusätzliche Seiten aus blauem Transparentpapier: Der schwarz skizzierte Baum in voller Pracht wird über jene Seite gelegt, die ihn kahl zeigt und damit die Art seines hölzernen Wuchses freilegt. Gemeinsam mit der Grafikerin und Buchkünstlerin Christiane Dunkel-Coberg schafft Linda Wolfsgruber dieserart einen angenehm stillen Einblick in die Varianten eines Naturraums. Und vergisst durch die mit hineingenommenen Gedichte von Erich Kästner bis H. C. Kaser nicht darauf, innezuhalten, sich auf Stimmungen einzulassen und sich Zeit zu nehmen für die Wissens-Aneignung. Als hätte Rose Ausländer in ihrem Gedicht „Das Schönste“ auch auf dieses kleinformatige Buch verwiesen: „Ich flüchte / in dein Zauberzelt / Liebe / im atmenden Wald / wo Grasspitzen / sich verneigen / weil es nichts Schöneres gibt“.

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