"Gartenstudio" - Paul Neuninger in seinem "Gartenstudio" südlich von Wien: Der Mensch zieht sich als Akteur zurück bzw. versteht sich nur noch als ein Akteur unter vielen.

Ein Garten für die Arten

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Brachflächen sind "Unorte" unserer Gesellschaft. Doch die spontane Vegetation dieser Freiräume hat ästhetisches und ökologisches Potenzial. Zu Besuch in einem grünen Labor.

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Brachflächen sind "Unorte" unserer Gesellschaft. Doch die spontane Vegetation dieser Freiräume hat ästhetisches und ökologisches Potenzial. Zu Besuch in einem grünen Labor.

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Die Königskerze: Stolz und prächtig ragt sie mit ihren leuchtend gelben Blüten in die Höhe. Man findet sie gehäuft im "Wasteland", an kaum beachteten Orten: bei Straßenrändern, Bahndämmen oder Schuttplätzen. Ebenso wie im Garten von Paul Neuninger und Verena Holzgethan: Hier ist die wilde, krautige Königskerze geradezu ein Markenzeichen. Denn im experimentellen Garten der beiden Landschaftsarchitekten spielen Brachland und die kreativen Pionierpflanzen, die es besiedeln, eine besondere Rolle. Die teils mannshohen Vertreter der Königskerzen (Verbascum) sind auf kurzfristige "Störungen" der Bodenoberfläche spezialisiert -bedingt durch Sturm, Erosion oder Fraßschäden, aber auch durch menschengemachte Einflüsse auf die Pflanzendecke. Ein Brandfeld zum Beispiel schafft Raum und somit optimale Bedingungen für die "Profiteure" einer solchen Störung.

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"Wir legen keine Beete an, sondern schaffen Störungen. Wir warten und beobachten, was dann kommt", sagt Neuninger, während er auf den gemähten Wegen zwischen dem Wildwuchs durch seinen Garten führt. "Pflanzen reisen durch Raum und Zeit. Wir versuchen, diese Dynamik zu beobachten und zu verstehen." Tatsächlich ist schon viel Vegetation hierher gekommen: Seit 2005 experimentiert er mit seiner Partnerin in dem Garten südlich von Wien, wo die beiden einen alten Streckhof renovieren. "Angefangen hat es mit unserem Interesse für den Charme des Brachlands, für die Vegetation an Parkplätzen, Schotterbänken, Kies-oder Lehmgruben." Auf Reisen quer durch Europa haben Neuninger und Holzgethan dort Pionierpflanzen und ihre Samen gesammelt, um sie in ihrem "Gartenstudio", wie sie es liebevoll nennen, zu vermehren und zu archivieren. So ist ein Samenarchiv entstanden, das mit jeder Reise wächst: Diese Sammlung ist ein Archiv der Erinnerungen, der Geschichten und Begegnungen -vom Mittelmeer bis zur Nordsee. Allein die Vielfalt der Königskerzen ist hier eindrucksvoll: Darunter ließen sich Verbascum speciosum, V. nigrum, V. chaixii und viele andere bestimmen.


Im Zeichen der Königskerze

Ein spezielles Merkmal der Königskerzen ist die Langlebigkeit ihrer Samen. Ihre Keimfähigkeit erstreckt sich bis zu weit über hundert Jahre. Da die Samen derart lang im Boden überdauern können, ist die Pflanzenart am Standort oft unsichtbar. Aber die Samen nehmen ihre Umwelt ständig puncto Licht, Temperatur und Feuchtigkeit wahr. Wenn die nächste Störung wieder geeignete Bedingungen schafft, können sie keimen und sich entfalten. Die Faszination für das Eigenleben der Königskerze haben die Landschaftsarchitekten bereits im Verbascum-Projekt zum Ausdruck gebracht - ein Werk an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst, das unter anderem beim Theaterfestival "Spielart" in München (2011) und im Rahmen der Ausstellung "(landscape) with flowers" in Wien (2013) gezeigt wurde. Im eigenen Garten läuft derweil ihr Großprojekt weiter, das deutlich vor Augen führt, was passiert, wenn man die intensive Pflege einstellt und Kontrolle zumindest partiell abgibt.

"Pflanzen kommen und gehen: Irgendwann nimmt man sie als eigenständige Akteure wahr", erzählt Holzgethan. "Wir selbst ziehen uns als Akteure zurück bzw. verstehen uns nur noch als ein Akteur unter vielen. Als wir zum ersten Mal im renovierten Haus übernachtet haben, hatten wir fast das Gefühl, als Eindringlinge die Ruhe des Gartens zu stören." Wer dieses Gefühl theoretisch unterfüttern will, kann bei Bruno Latours "Das Parlament der Dinge" nachschlagen oder bei Emanuele Coccia, dessen Buch über die "Philosophie der Pflanzen" gerade am Küchentisch von Neuninger und Holzgethan zu finden ist.

Nur bei Bedarf wird in ihrem Garten gemäht, gerodet oder gemulcht, sei es aus ästhetischen Gründen oder um das Überhandnehmen einer Art zu verhindern. "Wir wollten eben keinen klassischen Garten gestalten", so die gebürtige Südtirolerin. Vielmehr einen dynamischen: Er verändert sich nicht nur über die Jahreszeiten, sondern auch über die Jahre hinweg. "Man lässt sich überraschen, anstatt ein bestimmtes Bild herstellen zu wollen", ergänzt Neuninger. "Das ist ein bisschen wie ein Theaterstück, wo man die Regie aus der Hand gibt und nicht weiß, ob bestimmte Akteure auftreten und welches Kostüm sie dann anziehen werden."

Über die Jahre ist der Garten richtig wild geworden: Freie Wiesenflächen, Stein-und Ziegelmauern, Schotter-und Lehmflächen gehen heute nahtlos ineinander über. Das Totholz alter Bäume wird belassen; in einer Ecke ist es zu einem Stapel aufgeschichtet. Aber auch ein Nutzgarten mit Obst, Gemüse, Beeren und Kräutern ist in diesem groß angelegten Experimentierfeld integriert.

Unten sind sie karg, oben öffnen die Disteln ihr Füllhorn: Das schätzen offensichtlich auch die Käfer, die hier wie trunken den ganzen Tag über in deren Blüten taumeln.

Es gibt sonnige und schattige, trockene und feuchte Bereiche: Diese Zonen bieten unterschiedlichste Standortverhältnisse und schaffen die Basis für eine hohe Biodiversität auf relativ kleinem Raum. Dass bereits naturnahe Kleingärten wahre Oasen der Artenvielfalt sein können, hat kürzlich eine dreijährige Studie der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) in Wien gezeigt. Und schon kleine Maßnahmen können hier etwas bewirken: zum Beispiel die Mahd mit der Sense, unterschiedliche Schnitthöhen, Nisthilfen und "Insektenhotels" sowie der Verzicht auf chemische Schädlings-und Unkrautbekämpfung.


Mediterrane Pracht: "Paxi" und "Scivu"

Aus der engen Beziehung zu den Pflanzen erwachsen mitunter auch Kosenamen, berichten Neuninger und Holzgethan: "Paxi" etwa ist eine Königskerze, deren Samen sie von der Insel Paxos in Griechenland mitgebracht haben; "Scivu" eine Karde aus Sardinien. Die stacheligen Distelgewächse zählen derzeit zu den Lieblingspflanzen der beiden Landschaftsarchitekten. Ihr wehrhafter Habitus, ihre pflanzliche Architektur, ihre imposanten Blüten, all das sei faszinierend, bemerkt Neuninger: "Unten sind sie karg, oben öffnen die Karden das Füllhorn: Wenn man die Nase jetzt in ihre sanften Blüten taucht, riechen sie wie Ziegenfell." Das schätzen offensichtlich auch die Käfer, die hier wie trunken den ganzen Tag über in den Blüten der "Scivu" taumeln.

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