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Das Wunder

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In diesen Tagen gilt es, eine traurige Bilanz zu ziehen. Ende Februar 1963, also vor fünf Jahren, erschien der 1. Band von Adolf Loos’ „Sämtlichen Schriften” in einem österreichischen Verlag. Dieser Band enthält die Bücher „Ins Leere gesprochen” und „Trotzdem”, die der berühmte Architekt zu Beginn der dreißiger Jahre in einem Pariser Verlag herausgebracht hat und die Adolf Loos einen fast legendären literarischen Ruhm schufen.

„Es wird kaum ein Buch geben”, schrieb ein Rezensent nach Erscheinen des Bandes, „das so erwartet wurde, wie dieses. Man hat damit nicht nur 30 Jahre nach dem Tode Adolf Loos’ eine österreichische Ehrenpflicht erfüllt und ein bedeutendes historisches Dokument wieder zugänglich gemacht, sondern man leistet dafür einen Beitrag für die Zukunft.”

Überhaupt überbot sich die österreichische und internationale Presse nach dem Erscheinen des ersten Bandes der „Sämtlichen Schriften” in Lobeshymnen, die zu berechtigten Hoffnungen Anlaß gaben.

„Adolf Loos spricht wieder”, lautet eine solche Pressestimme. „Ob weiterhin ins Leere, hängt jetzt nur noch von uns ab. Denn es ist etwas Unglaubliches passiert: Die Bücher, die man lange Zeit nur in den Such- listen der Antiquariate gefunden, die man ausgeborgt und nie mehr zurückbekommen hat, liegen wieder in der Auslage. Ein kleines österreichisches Wunder.”

„Das Buch gehört in alle Schulen”, schrieb ein weiterer Kritiker. „Besonders empfohlen sei es aber den Politikern, allen öffentlichen und privaten Bauherrn, allen Bauleuten, den Siedlungsgenossenschaften und den Besitzern von Loos-Häusern.”

Schöne goldene Worte, nur wurden sie „ins Leere gesprochen”. Die Begeisterung der Journalisten übertrug sich nicht auf die Interessenten. Von den 4000 Exemplaren, die der Verlag gedruckt hatte, waren trotz größter Propaganda nach fünf Jahren nur 2700 Stück verkauft. Der Herausgeber, mit Arbeit überlastet, von Krankheiten geplagt, entmutigt durch den Mißerfolg, schob die Herausgabe des 2. Bandes, der die bisher unveröffentlichten Schriften von Adolf Loos enthalten sollte, immer wieder hinaus. Die Welt kann von Glück reden, wenn dieser zweite Band überhaupt noch jemals erscheinen wird.

Österreich, das sich immer gerne als eine geistige Großmacht bezeichnet, verlor somit eine Schlacht, mit der es sich diese Position leicht hätte erobern können. Adolf Loos wird weiterhin in der ganzen Welt als einer der größten Architekten der modernen Zeit gelten, in seiner Heimat aber immer weniger bekannt werden. Das österreichische Wunder, von dem ein Journalist bei der Besprechung des ersten Bandes sprach, fand nicht statt.

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