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Alles nach Rom

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Behaupteten die Behörden bis vor kurzem, sie hielten die Cholera unter Kontrolle und es handle sich bei den vom El-Tor-Bazillus Angesteckten um »einige wenige auf Neapel und Umgebung beschränkte Fälle“, so hat sich diese Beschwichtigung mittlerweile als unrichtig und voreilig erwiesen. Die Anzahl der Personen, die wahrscheinlich von der fürchterlichen Krankheit befallen ist, steigt ständig.

Daß die Cholera sich gerade auf die Hauptstädte Apuliens an der adriatischen Küste ausdehnen konnte, ist kein bloßer Zufall. Wie Neapel, ist Bari Hafen- und Industriestadt. Die Küsten sind seit Jahr und Tag verseucht. Die hier gefischten Meeresfrüchte stellen geradezu ideale Überträger des Cholerabazillus dar. Zudem hat der Ausbau der Infrastruktur keineswegs mit der industriellen Entwicklung Schritt gehalten, so daß in Bari das Wasser jeden Sommer während einiger Stunden oder ganzer Tage rationiert werden muß. Die für die wirksame Bekämpfung einer Epidemie unerläßliche Hygiene ist damit gleichsam von der Basis her in Frage gestellt.

Wo ein so günstiger Nährboden für die Ausbreitung einer Epidemie besteht, liegt es auf der Hand, daß die Bevölkerung versucht, sich wenigstens mittels Impfstoffes, Arzneien und natürlichen Mitteln, wie Zitronen, vor dem Übel zu schützen — auch wenn es heißt, stundenlang bei strömendem Regen darauf zu warten. Solange ihre Wünsche in Erfüllung gehen, beweisen die Bewohner von Neapel und Bari eine bewundernswerte Geduld. Arg wird es hingegen, wenn plötzlich das Wort „esaurito“ (Vorrat aufgebraucht) von Mund zu Mund geht. Dann lassen sie ihrem Zorn gegen die Behörde und alles, was (außer dem lieben Gott) „von oben“ kommt, freien Lauf. In San Giorgio versuchte eine Masse aufgebrachter Menschen das Stadthaus in Brand zu stecken. Im Traiano-Viertel von Neapel wurden der Rotkreuzstation die Fenster eingeschlagen. Nebenan verbarrikadierten sich Ärzte und Pflegerinnen in einem Schulhaus, um nicht windelweich geschlagen zu werden. Mit großem Opfersinn hatten sie sich tagelang für die armen Leute eingesetzt und wollten jetzt, da der Vorrat an Impfstoff aufgebraucht war, nicht die Sündenböcke des behördlichen Versagens sein.

Es steht jetzt fest, daß die Behörden das Auftreten des El-Tor^Ba-zillus in Erculano zu spät bekanntgegeben haben, erst am 29. August, während die ersten Fälle schon sechs Tage zuvor mit Sicherheit auf Cholera schließen ließen. Durch diese Geheimhaltung konnte das Übel nicht überall rechtzeitig mit geeigneten Mitteln bekämpft werden. Zwar geben die Behörden in Neapel und Rom zu bedenken, daß es vor allem galt, einer Panikstimmung im ganzen Lande zuvorzukommen. Sachverständige bezeichnen aber diesen Einwand als Ausrede. Der eigentliche Grund sei der Kompetenzkonflikt zwischen den zuständigen Regionalbehörden in Neapel und den Zentralbehörden in Rom. Seit der Schaffung der Regionalverwaltungen durch den Urnengang vom 7. Juni 1970 sind diese, nicht mehr Rom, für das Gesundheitswesen in ihrem Juristiktions-bereich verantwortlich. In einer Stadt wie Neapel steht die Regionalverwaltung aber nur auf dem Papier, verfügt vor allem auch kaum über ausreichende Mittel und genügend Personal, um alle ihr aufgebürdeten neuen Aufgaben erfüllen zu können. In dieser mißlichen Lage hat das Ministerium für Gesundheitswesen in Rom die Initiative zu spät und sehr einseitig ergriffen. Die pharmazeutischen Industrien sahen sich plötzlich außerstande, ihre Produkte direkt nach Neapel zu liefern. Wie in Kriegszeiten hatte Rom die ganze Verteilung an sich gerissen, so daß das Gros der Arzneien zunächst nach der Hauptstadt spediert werden mußte, wo sie großteils liegengeblieben sein sollen. Lediglich 20 Prozent seien nach Neapel gelangt, was für den Bedarf der zweieinhalb Millionen keineswegs ausreichte.

Ob es wirklich alles andere als ein Zufall ist, daß das Gesundheitsministerium bisher nur einen kleinen Teil der Bekämpfungsmittel nach Neapel und Bari weiterleitete, kann noch nicht beurteilt werden. Einesteils ist in Notzeiten jeder sich selbst der Nächste: bricht die Epidemie in Rom aus, so wollen bei der Kärglichkeit der Medikamente die Römer sich selber retten. Anderseits gilt es, in Rechnung zu stellen, daß — solange die Regionalverwaltungen nicht wirklich einsatzfähig sind — die römische Zentrale wohl oder übel die Verantwortung für das ganze Land trägt und daß bei all den Mißständen in Italien niemand wissen kann, ob die Arzneien nicht schon morgen oder übermorgen in anderen Gebieten als rund um Neapel und in Apulien benötigt werden, was inzwischen auch der Fall war.

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