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Der Kreis ist geschlossen

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Die intellektuelle Verlustliste des laufenden Jahres 1971 ist bereits sehr lange und ivieder müssen wir einen Namen hinzusetzen, der gerade für Wien und Österreich von besonderer Bedeutung ist: der große Historiker H ans Kohn, in Prag als Sproß einer berühmten rabbinischen Ahnenreihe 1891 geboren, schied in Philadelphia aus einem bewegten und geistig bewegenden Leben.

Wie so viele Muštre Gelehrte, studierte der junge Mann die Rechtswissenschaft und erwarb seinen Dr. jur. Mir sagte er einmal, daß „wir österreichische Juristen eigentlich die letzten Humanisten“ seien — sowohl wegen unserer klassisch-humanistischen Erziehung an den traditionsreichen Gymnasien, als auch wegen des wahrhaft humanen und harmonisierenden Geistes der älteren Gesetze und erst recht der neueren.

Hans Kohn meldete sich beim Ausbruch des ersten Weltkrieges freiwillig zum Militärdienst, wurde an die russische Front geschickt, wo er an verschiedenen Kämpfen teilnahm, und geriet in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er einen abenteuerlichen Fluchtversuch wagte. Er erlebte den leninistischen Umsturz im russischen Lager, und die langen Jahre seines unfreiwilligen Aufenthaltes wurden ihm zu Lehrjahren der Slawistik. Zu gleicher Zeit fesselte ihn die Idee des Zionismus, und nach seiner Rückkehr aus Rußland lebte er eine Weile in London und Jerusalem, sich emsig journalistischen und historischen Forschungsarbeiten widmend. In der Klarheit seines deutschen und später englischen Stils — er schrieb mit vollendeter Eleganz in beiden Sprachen —, spiegelt sich die Klarheit der Wortgebung des ABGB und Franz Kleins wider.

Später ging Kohn nach den Vereinigten Staaten, wo er das Bürgerrecht erwarb und an verschiedenen Hochschulen Geschichte und Staatswissenschaften lehrte, vor allem an der New Yorker City University und nach seiner Emeritierung an der Universität von Pennsylvania; wie- ■ derholt war er Gastprofessor an deutschen Hochschulen, wie der Freien Universität Berlin und in Heidelberg.

Zu seinen wichtigsten Werken gehören die folgenden: Nationalism and Liberty (1956), American Nationalism (1957), The Mind of Germany (1960) Europe in Crisis 1850 bis 1914: State, Class, Faith (1969). Da Kohns Gebiet stark in das Kulturgeschichtliche fällt, ist zumal für Österreicher seine Essaysammlung „Schnitzler,

Kraus, Weininger“, die als Veröffentlichung der Leo-Baeck-Ge- sellschaft erschien, von großem Interesse. Darin Romain Rolland nicht unähnlich, sieht Kohn im Judentum und in einem Dichter wie Arthur Schnitzler — im Gegensatz zu den haßzerfleischten Geistern wie Weininger oder Karl Kraus — einen zwischen- und übernationalen Kraftakkumulator, der (bei aller kritischen und psychologischen Analysierfähigkeit) das übernationale Kulturstreben repräsentiert. Damit schließt sich auch für den Historiker der Kreis: er, der als junger Frontoffizier begeistert für das Habsburgerreich, diesen Völkerbund vor dem Völkerbund, ins Feld gezogen war, der dann seine Lebensarbeit dem Nationalismus als einer Kategorie der Historie und Staatswissenschaft gewidmet hatte, sieht in seiner Aufhebung den Weg zum wahren Fortschritt und nähert sich im Alter wieder bewundernd dem Werk der großen Staatsmänner des Habsburgerreiches.

Kohn war ein glänzender Vortragender und als Lehrer enthusiasmierend, geliebt und verehrt. Ein überaus glückliches Ehe- und Familienleben verschönten seine arbeitsreichen Jahre: sein gastliches Haus, geführt von Frau Jetti Kohn, stand Freunden, Schülern, Fremden immer offen. Das Goethe-Wort bei Schillers Todesfeier „Denn er war unser“ bedeutet einer großen Trauergemeinde stolzen Trost!

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