Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Verfall des Einfalls?
Durch gewisse „Erfindungen“ und rechnerische Kompositionssysteme sind während der letzten zehn Jahre in der neuen Musik radikale Veränderungen erfolgt, die Ernst Krenek in einem von der „Oester- reichischen Kulturvereinigung“ veranstalteten Vortrag zu erläutern unternahm.
Für den Hörer, sei er Laie oder Musiker, galt und gilt als Wertkriterium eines musikalischen Kunstwerks die Qualität und Fülle der melodischen Einfälle. Ebenso erwartet man von einem Musikwerk eine „Aussage“, eine „Mitteilung“, die aufs engste mit der Entwicklung musikalischer Gedanken verknüpft ist. Das gilt auch noch für die auf der Reihentechnik basierenden Werke eines Schönberg oder Alban Berg, obwohl bereits dort dem spontanen Einfall durch die Gesetze der Dodekaphonik gewisse Fesseln angelegt sind. — Während sich bei den Initiatoren der Zwölftonmusik, besonders aber bei ihren Adepten aus der mittleren Generation, zu der Krenek sich mit gutem Recht zählt, eine rückläufige Bewegung zeigt (indem ntan nämlich die Regeln freier zu handhaben beginnt, um etwa bei der „freien Atonalität“ zu landen), macht sich bei einer Reihe jüngerer Komponisten die Tendenz zu noch strengerer, ja zu totaler Regelhaftigkeit bemerkbar. Diese jungen Musiker (etwa Stockhausen in Deutschland und Pierre Boulez in Frankreich stützen sich auf theoretische Arbeiten von Olivier Messiaen, der es unternahm, auch das Zeitelement zu ordnen, zu organisieren. (Merkwürdigerweise erwähnte Krenek nicht Anton von Webern, dessen „punktuellen“ Stil die genannten jungen Komponisten weiterentwickelt haben.) Der nächste Schritt war die Vorordnung, die genaue Vorausplanung auch der
Dynamik und der Klangfarbe. Darnach, wenn alle diese Proportionen festgelegt sind, läuft die Komposition fast automatisch ab. (Die — wenigen — freibleibenden Faktoren nennt man „Parameter“, ein aus der Geometrie entlehnter Fachausdruck, mit welchem man die bei der Berechnung einer Kurve veränderlichen Hilfsgrößen bezeichnet.) Beunruhigend ist bei einer auf diese Weise prädisponierjen'Komposition, die man vielleicht besser als „Ablauf“ bezeichnet, daß der Zusammenklang der Stimmen, die Harmonik, dem Zufall überlassen bleibt. Und in der Tat ist, was bei komplizierter Textur eines Stückes an jedem Punkt harmonisch „passiert", nicht vorauszusehen. (Das Gegenteil also von „prästabilierter Harmonie“!) Je mehr festgelegt eine serielle Komposition ist, desto „zufälliger", überraschender klingt sie, ja um so chaotischer kann der Gesamteindruck sein.
Da erhebt sich zum Schluß die Frage: warum „komponieren“ einige junge Musiker nach dieser hochkomplizierten, mühseligen und zeitraubenden Methode? Weil ihnen nichts Neues, Originelles mehr einfällt? Oder weil ihre Ansprüche so hochgeschraubt sind, daß ihnen ihre Einfälle (auch wenn sie gut und ergiebig sein sollten) nicht mehr genügen? Weil sie das Unerhörte, absolut Neue wollen? (Denn „einfallen“ kann einem ja nur, was man sich „vorstellen“ kann!) Diese Frage hat Ernst Krenek in seinem interessanten Und wohlformulierten Vortrag mit gutem Grund nicht beantwortet. Denn die Wertung dieser Experimente müssen wir wohl der Zukunft, zumindest späteren Jahrzehnten überlassen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!