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Heilen durch Teilen

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„Die Teilung Deutschlands durch Teilen überwinden ": Mit dieser Formel hat der neue CDU-Ministerpräsident des staatsrechtlichen Auslaufmo- dells DDR viel Echo gefunden. So ungefähr hat sich's jeder vorgestellt. Aber was kann das in der Praxis wohl bedeuten?

Wie diese Praxis derzeit aussieht, wird allmählich immer deutlicher. Die Produk- tivität der in der DDR geleiste- ten Arbeit dürfte bei maximal 40 Prozent der in der Bundes- republik geleisteten liegen: In einer Arbeitsstunde wird in der DDR also nur 40 Prozent des in der BRD produzierten Wertes erzeugt.

Nicht einmal vier Prozent der DDR-Bewohner verfügen über einen Telefonanschluß. Die Qualität des Straßennetzes entspricht dem unseren in den frühen fünfziger Jahren. Acht von zehn Wohnungen in der DDR wurden noch vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut - man kann sich ihren Zustand vorstellen. Nur zwölf Prozent der energieerzeugenden Unter- nehmungen wurden nach 1945 errichtet: daher der hohe Um- weltverschmutzungsgrad.

Aus diesen Zahlen darf man keinerlei Geringschätzung der DDR-Bewohner ableiten. Sie können viel mehr, als sie in der Vergangenheit geleistet haben, für ein Diktatursystem von Volksausbeutern leistet man eben nicht sein Bestes. Auf die Hoffnung, daß sich mit dem Willen zur Freiheit auch der Wille zur Leistung einstellen wird, setzen heute West und Ost.

Daß eine allgemeine Wäh- rungsumstellung im Verhält- nis 1 : 1 (mit Ausnahme der Staatsschulden, denn da streb- te auch die DDR ein anderes Verhältnis an) nicht problem- los möglich sein wird, liegt ziemlich auf der Hand. Es wird noch genug Gelegenheit für „Solidarität durch Teilen" be- stehen, und die BRD ist dazu auch bereit.

„Denn", so erläuterte der CDU-Abgeordnete Otto Wulf dieser Tage in Wien, „eins darf nicht passieren: daß die DDR zum Armenhaus Deutschlands oder das übrige Osteuropa zum Armenhaus Europas wird." Ein wahres, wichtiges, teures, aber finanzierbares Wort.

Das also wird ein Hauptziel der Wirtschaftspolitik in Eu- ropa sein müssen: ein möglichst bald vergleichbares Wohl- standsniveau in ganz Europa herbeizuführen. Das weitere Ziel ergibt sich ganz von selbst: Jedes Land der Erde muß allen Menschen würdige Existenz- bedingungen bieten.

Jedes drastische Wohlstands- gefälle birgt auf Dauer Explo- sionsgefahr in sich. Eine zeit- gemäße Erinnerung am Vor- abend des 100. Jahrestags des ersten 1. Mai.

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