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Im Zeichen der Taube

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Peter Brook hat erklärt, die längste Zeit, die eine Inszenierung zu überleben vermöge, seien fünf Jahre. Der „Jedermann“ ist ein Sonderfall. Erst recht „Christophe Colomb“ von Paul Claudel, die Szenenfolge, die auf Veranlassung von Jean-Louis Barrault aus der gleichnamigen Oper von Darius Milhaud als Schauspiel mit Musik entstanden war, 1953 in Barraults Inszenierung uraufgeführt wurde und nun bei den Wiener Festwochen als Gastspiel der Compagnie Renaud-Barrault im Theater an der Wien zu sehen war.

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Peter Brook hat erklärt, die längste Zeit, die eine Inszenierung zu überleben vermöge, seien fünf Jahre. Der „Jedermann“ ist ein Sonderfall. Erst recht „Christophe Colomb“ von Paul Claudel, die Szenenfolge, die auf Veranlassung von Jean-Louis Barrault aus der gleichnamigen Oper von Darius Milhaud als Schauspiel mit Musik entstanden war, 1953 in Barraults Inszenierung uraufgeführt wurde und nun bei den Wiener Festwochen als Gastspiel der Compagnie Renaud-Barrault im Theater an der Wien zu sehen war.

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Claudel hatte schon im „Seidenen Schuh“ den Ansatz zu totalem Theater, zum Verwenden aller Ausdrucks-mittel der Bühne gegeben, im „Christophe Colomfo“ entfaltet sich diese Totalität in der epischen Abfolge kurzer Szenen überreich. In der Fülle des abwechslungsvollen, im besten Sinn Theatralischen, liegt die Ursache des Dauererfolgs. Hier gibt es einen Ansager, gibt ea Dialoge, immer wieder Musik, den Gesang des Chors, einzelne Chorsprecher, Tanz, Pantomimisches, Film, alles das greift locker ineinander.

Der Film wird mehrfach eingesetzt, am Anfang sinnbildlich. Eine Hand greift in Wolkiges, Wirbelndes, schließlich erscheint eine sich drehende, nebelumhüllte Kugel. Die Bedeutung ist unschwer zu erkennen: Der Zugriff des Colon* erwiea die Kugelgestalt der Erde. Eine Szene fehlt gegenüber früher, in der sich Nereiden durch Bewegungen in Wellen verwandeln und auch der junge Colomfo wird, recM eigentlich dem Wasser vermählt, sich niederbeugend Welle. Barrault meinte, der Schauspieler habe nicht nur den Menschen, er haibe die gesamte Natur von den Tieren über die Pflanzen bis zu den Elementen darzustellen. Das waren Ansätze, die offenbar auch von Barrault nicht weiterentwickelt wurden.

Die Bühne beherrscht ein riesenhaftes Segel, das gleichzeitig als Pro-jektionsfläche dient, die Hauptszenen spielen sich darunter auf einem schmalen Podium beinahe reliefartig ab.-Davor lagert der Chor oder er greift 'gelegentlich in, dia Geschehnisse ein. Von hier aus betrachtet auch Colomfo als Colomfo II sein eigenes Leben, das Colomfo I vorführt. Hier ist dieser Colomfo nicht ein Held und Abenteurer, sondern ein Abgesandter Gottes, ein Missionar und Märtyrer, Christophe, der Christus als Taube — Colomfo — übers Weltmeer trägt. Märtyrer? Er wird auf seinem Schiff gefesselt, er endet im Elend.

Hier entstand noch in unserem Jahrhundert Bühnendichtung, wie seit Jahrzehnten kaum mehr, hier gibt es 'noch geistiges Format, das durch Barrault, Claudels Angaben folgend, großartig ins Sinnliche umgesetzt wird. Barrault spielt nun nicht mehr Colomfo I, sondern den von der Vorbühne aus beobachtenden zweiten Colomfo, den ersten stellt der überaus impulsive Laurent Terzieff voll jener Energie dar, der man das Besondere zutraut. Christine Guer-don ist eine verinnerlichte Isafoella, Marie Helene Daste, Darstellerin von Colomfos Mutter, entwart auch die Kostüme.

Nach seiner Kolumbus-Oper, die am 5. Mai 1930 in Berlin uraufgeführt wurde, hat Darius Milhaud 25 Jahre später für Barraults Inszenierung eine Bühnenmusik geschrieben, die wir nun am vergangenen Wochenende im Theater an der Wien erstmalig hörten. Es ist eine Partitur für 12 Instrumentalisten, die von der Vereinigung „Wiener Kammermusiker“ ausgeführt und von Andre Girard geleitet wurde. Milhaud, der zur Gruppe der SIX gehörte, schrieb weder tonale Musik noch dodeka-phonische, sondern er hatte für sich die „Polytonalität“ entdeckt, die, wie sich hier erwies, besonders geeignet ist, alle nur möglichen Situationen und Personen eindringlich zu charakterisieren — wenn es sich eben um einen so theat^kundigen Musiker wie Milhaud handelt. Es ist eine ziemlich große Partitur geworden, das Stück Claudels hat 26 Szenen, und in fast jeder Szene gibt es ein oder mehrere Musikstücke (Das gilt besonders für den 1. Teil). Der „Chor“ wird singend oder rhythmisch sprechend eingesetzt. Zur Gesamtwirkung dieses schon klassischen Beispiels für epische Musiktheater des 20. Jahrhunderts hat Milhaud einen sehr wesentlichen Beitrag geliefert.

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