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Der Musiker des Mittelmeeres

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Darius Milhaud, am 4. September 1892 in Aix-en-Provence geboren, stammt aus einer jener zahlreichen jüdischen Familien, die noch vor Beginn der Römerzeit in der Gegend um Avignon ansässig waren und später, unter dem Schutz der päpstlichen Legaten, weder Diskriminierung noch Verfolgung erdulden mußten und die sich, wohlhabend und gebildet, jahrhundertelang frei entwickeln und im gleichen Land leben konnten. — Einem Vortrag, den Milhaud in Mills College (Oakland) und vor vier Jahren auch in Wien gehalten hat, gab er den Titel „Ma vie heureuse — Mein glückliches Leben“.

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Darius Milhaud, am 4. September 1892 in Aix-en-Provence geboren, stammt aus einer jener zahlreichen jüdischen Familien, die noch vor Beginn der Römerzeit in der Gegend um Avignon ansässig waren und später, unter dem Schutz der päpstlichen Legaten, weder Diskriminierung noch Verfolgung erdulden mußten und die sich, wohlhabend und gebildet, jahrhundertelang frei entwickeln und im gleichen Land leben konnten. — Einem Vortrag, den Milhaud in Mills College (Oakland) und vor vier Jahren auch in Wien gehalten hat, gab er den Titel „Ma vie heureuse — Mein glückliches Leben“.

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Glück hatte Milhaud bereits mit seinem Elternhaus, speziell mit seinem Vater, der sich dem Wunsch des Sohnes, Musiker zu werden, nicht widersetzte, sondern den Siebzehnjährigen aufs Conservatoire nach Paris schickte. Hier waren Widor, Dukas, Rabaud, Leroux, d'Indy und Gedalge seine Lehrer (dem letzteren ist der 80jährige Milhaud auch heute noch in dankbarer Erinnerung verpflichtet). Die stärksten Eindrücke empfing der junge Musiker von den Partituren Debussys, besonders von „Pelleas et Melisande“ und von Mussorgskis „Boris Godunow“.

Als Zwanzigjähriger lernte er Paul Claudel kennen, der ihn 1916 an die französische Botschaft nach Rio als seinen Sekretär berief. Hier schrieb Milhaud den 2. Teil der „Orestie“ nach Aischylos, die Claudel nachgedichtet hatte („Les Choepho-res“), und begann die Partitur der „Eumenides“, hier komponierte ,er das Ballett „L'homme et son desir“ und lernte. die südamerikanische Folklore kennen. Und hier lebte er in jenem Milieu, in dem seine „südamerikanische Trilogie“ spielen sollte — die aber keineswegs als solche konzipiert war, sondern durch „zufällige“ Begegnungen mit den verschiedenen Dichtern, beziehungsweise ihren Stücken, entstand.

1918 kehrte Milhaud nach Paris zurück und schloß sich mit Honeg-ger, Auric, Poulenc, Durey und Germaine Tailleferre zur „Gruppe der Six“ zusammen — die mehr ein Freundschaftsbund als eine ästhetische Schule war. Immerhin verband alle diese Musiker ihre Verehrung Erik Saties. Aber während Auric und Poulenc sich von der Ästhetik Cocteaus beeinflussen ließen und der alemannische Schweizer Honegger nicht frei war von deutschem Romantizismus (dem der Kathedralen und der modernen Maschinen), ist in Milhauds Werk der „lyrisme mediterraneen“ Klang geworden. Zu ihm hat sich Milhaud stets und ausdrücklich bekannt. „Ja, Heimatstadt und Heimatland sind wahrlich keine leeren Worte für mich; und Worte wie .lateinisch' und .mediterran' wecken in mir einen tiefen Widerhall“, sagte Milhaud zu dem Pariser Musikkritiker Claude Rostand.

Bis zum Jahr 1939 lebte Milhaud in Paris, seit 1923 in einer bescheidenen Wohnung auf dem rechten Seineufer, am Boulevard Clichy, der zum Montmartre gehört, ganz dicht an der lärmenden Place Pigalle. — Nach Kriegsausbruch emigrierte Milhaud nach den USA, wo er am Mills College unterrichtete. Seit 1945 teilt er seine Zeit zwischen Paris, an dessen Conservatoire er eine Meisterklasse hat, und der Neuen Welt. Vor allem aber ist er viel auf Reisen, die er leidenschaftlich liebt, trotz der Behinderung durch eine rheumatische Lähmung, die ihn seit vielen Jahren an den Rollstuhl fesselt. Aber, so meint er, das sei „ein kleines Leiden“, denn man kann seinen Rollstuhl nicht nur ins Auto oder in den Zug heben, sondern auch in ein Flugzeug schaffen.

Von allem Anfang an zeigt sich bei Milhaud eine Vorliebe fürs Experiment: auf harmonischem, klanglichem und formalem Gebiet. Er wollte eine Musik schreiben, wie er sie zuweilen träumte: raffinierter und phantastischer, als die bisher bekannte. Bald bereichert er die Neuerungen Koechlins, Strawinskys und Schönbergs (die er genau kannte und studierte) um eine weitere: die Polytonalität. Sie entsteht durch Überlagerung von in verschiedenen Tonarten geführten Stimmen oder Akkorden. Die so entstehenden Harmonien befriedigen Milhaud mehr als die gewöhnlichen, denn ein poly-tonaler Akkord ist subtiler in seiner

Zartheit und heftiger in seiner Aus-Iruckskraft. Durch Milhauds Verfahren wird die Tonalität nicht aufgelöst (wovor er stets gewarnt hat), ;ondern eher betont, — freilich auf leue Art. Neuartig ist auch Mil-lauds Behandlung des Orchesters, las gelegentlich durch große Schlag-verkgruppen (bis zu 20 Mann) be--eichert wird. In den 1914 begon-lenen „Choephores“ wird zum erstenmal ein rhythmisch sprechender Chor in einem Bühnenwerk verwendet und anderes Neues erprobt.

Man hat Milhauds umfangreiches Dpus, das etwa 400 Nummern und sämtliche nur vorstellbare Gattungen umfaßt, mit einem Strom verglichen, einem mächtigen, vielartigen Gewässer, das gelegentlich auch Steine und Sand mit sich führt. Man nag bei seinem Anblick auch an ;inen Vulkan denken, der nicht nur Feuer, sondern auch Rauch, Geröll and Lava auswirft. Denn Milhaud schafft wie die verschwenderische ttatur, und immer wieder gelingen ihm, neben Routinearbeiten, Werke ron überwältigender Kraft und solche von subtiler Zartheit. Alllein nit den fürs Theater geschriebenen, angefangen von den Balletten „Le train bleu“ (nach einer Operette dansee von Jean Cocteau, 1924) über „Esther de Carpentras“ (Armand Lunel), „Marimilien“ (nach Werfeis „Juarez und Maximilian“) bis zu „Bolivar“ von 1943 (nach einem Stück von Süpervielle) könnte man ein mehrwöchiges Festspiel bestreiten.

Um von der Vielfalt des Milhaud-schen Schaffens eine Vorstellung zu geben, schlagen wir das uns vorliegende Werkverzeichnis — ein keineswegs „schmales“ Bändchen — beim Jahr 1919 auf. Da stehen, nach zwei Psalmen, die reizenden Chansons „Les soirees de Petrograde“ nach Gedichten von Rene Chalupt. Hierauf folgen die Pastoralen für Singstimme und sieben Instrumente „Machines agricoles“, in denen die Vorzüge dieser ländlichen Ungetüme so charmierend beschrieben werden, daß man versucht ist, sein Klavier abzustoßen und sich einen Mähdrescher im Salon aufzustellen. Die nächste Nummer führt den Titel „Le boeuf sur le toit“ und den etwas enigmatischen Untertitel „Cinema-Fantaisie“, natürlich nach Jean Cocteau.

Das alles stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 1919, in dem Milhaud als erster namhafter westlicher Komponist einen Besuch im neuen, nachrevolutionären Rußland machte. Im Jahr darauf schrieb er eines seiner anmutigsten Divertissements, den „Catalogue de fleurs“ auf Werbetexte, wie man sie in jenen Broschüren findet, die uns die Blumenhandlungen und Sämereien im Frühjahr ins Haus schicken. Gemeinsam mit seinen Freunden von der Gruppe der „Six“ komponierte Milhaud einige Nummern für die Operette „Les marigs de la Tour Eiffel“ (deren Partitur bis vor kurzem verschollen war) und 1923 die Musik zu dem Ballett „La Creation du monde“, dessen Libretto Blaise Cendrars nach einem Negermärchen angefertigt hatte. Es wurde 1923, von Fernand Leger ausgestattet, durch die „Ballets Suedois“ uraufgeführt und machte vor allem wegen der darin erstmalig verwendeten Urwaldrhythmen und Saxophonklänge Furore.

Wir blättern weiter in dem Katalog und halten, 25 Jahre später, bei den Streichquartetten Nr. 12 und 13, die man sowohl einzeln wie gleichzeitig, als Oktett, spielen kann. Und wir ergänzen noch die Oper „Le Roi David“, die Milhaud auf Bestellung zur 3000-Jahr-Feier für Israel, und zwar auf einen hebräischen Text seines Freundes Armand Lunel, geschrieben hat und die 1951 in Jerusalem uraufgeführt wurde. Und wir beenden unsere kurze Ubersicht mit der Erwähnung eines Werkes, das Milhaud besonders teuer ist: der Vertonung von Teilen aus der Friedensenzyklika Johannes XXIII., die in Notre-Dame aufgeführt wurde und eine Einladung des Komponisten nach Rom zur Folge hatte.

Diese erfolgte erst durch Papst Paul VI. Und zwar zu einem „ökumenischen Konzert“, mit je einem Werk des Katholiken Mali-piero (der dieses Jahr seinen 90. Geburtstag beging), des Protestanten Jan Sibelius, des Orthodoxen Strawinsky und des gläubigen Juden Milhaud. Bei diesem Konzert saß Strawinsky zur Rechten, Milhaud zur Linken des Papstes, und er bekannte später, daß von den vielen glücklichen Stunden seines Lebens diese die allerglücklichste gewesen ist.

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