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Das Ensemble „die reihe”, das im März 1959 mit seinem ersten Konzert hervortrat, begann seinen diesjährigen Abonnementzyklus mit einer Veranstaltung im Mozart-Saal des Konzerthauses, bei der Kompositionen von fünf Seriellen aufgeführt wurden, die den Jahrgängen 1929 bis 1937 angehören. Die Bezeichnung „Konzert” für diese Veranstaltung wäre nicht ganz zutreffend, und als „Kompositionen” sind einige der aufgeführten Stücke nur mit Vorbehalt zu bezeichnen. Die Mindestforderung nämlich, deren Erfüllung von einem Musiker erwartet werden darf — was immer er auch produziert haben mag —, nämlich die, daß er das, was in jedem Augenblick geschieht, auch verantwortet, wurde von einigen der Aufgeführten nicht erfüllt. Heißt es doch etwa über die Interpretation des Stückes „Autumn 1960” des jungen Engländers Cornelius Cardew: „Die Freiheit der Entscheidung erstreckt sich bis auf die Zahl und Art der beteiligten Instrumenta- listen… Jeder von ihnen erhält ein Notenblatt, auf dem ihm eine Reihe von Möglichkeiten zur Auswahl vorgeschlagen “wird: ‘TJISe’Möglichkeiten erstrecken sich auf; .Einlata «dqui bibowl auf -fixierte Tonhöhe oder einen Ton seiner Wahl, auf Dynamik, Artikulation usw.” Das bedeutet: Es kann praktisch jedes Mitglied des Ensembles, das „am Entstehen des Werkes beteiligt ist” (auch diese Wendung findet sich im Programmkommentar), tun und lassen, was er will. Also eine Art „Kollektivkomposition” nach sehr vagen Richtlinien des „Komponisten”.

Das Resultat war nicht einmal lustig, sondern von bedrückender Langeweile. Viel deprimierender aber war, daß die genauer fixierten Kompositionen (von Evangelisti, Biel und Ferrari) genau so willkürlich, ungeordnet und einfallslos klangen. Mit dem einen Unterschied, daß der eine vor allem die Pausen, der andere leises Klavier- saitengezupfe und der dritte den Blechbläser- und Schlagzeuglärm liebt. — Keines der aufgeführten Stücke (Autumn 1960, Ordini, Für Klavier I und II, Visage II) dauerte länger als zehn Minuten. Das war unter den gegebenen Umständen ein Vorteil. Eine Ausnahme bildete lediglich die 1. Klaviersonate von Pierre Boulez aus dem Jahr 1946: ein inspiriertes, eigenwilliges Stück, in dem sich eine originelle, gewalttätige Künstlerpersönlichkeit manifestiert. Die bedeutenden technischen Schwierigkeiten überwand „spielend” Charlotte Ze1ka. Das Ensemble der „reihe” wurde von Kurt Schwertsik geleitet.

Auf dem Programm des 1. Konzerts des Kammerorchesters der Wiener Konzerthausgesellschaft unter Paul Angertr standen Werke von Couperin, Frank Martin, Darius Milhaud und D. E. Inghelbrecht. — Die drei „Modernen” sind zwischen 1880 und 1892 geboren. Martins Concerto für sieben Bläser und Streicher stammt aus dem Jahr 1949, die Partitur von Milhauds Oboenkonzert wurde 1958 beendet, und der aus dem Freundeskreis um Debussy hervorgegangene, als Dirigent des Schwedischen Balletts bekanntgewordene und igegenwärtig als Chef des Pariser Radioorchesters tätige Inghelbrecht, schrieb seine Sinfonia breve di camera 1931.

Keiner dieser drei Meister gehört zu den Großmeistern, zu den „Klassikern” der Moderne, und jeder von ihnen hat Bedeutenderes geschrieben, als die in dem besprochenen Konzert aufgeführten Werke. Aber trotzdem: welch ein Unterschied zu den langweiligen, einfallslosen und bürokratischen Produkten der „Seriellen” des Reihekonzerts! Wieviel Geist, Witz, Einfall und handwerkliches Können steckt in jeder der Kompositionen von Martin, Milhaud und Inghelbrecht! (Dauer der einzelnen, jeweils dreisätzigen Werke: etwa 20 Minuten.) Diese Musik hat noch ein natürliches Verhältnis zur Zeit, zum zeitlichen Ablauf. Daher vermag sie dem Zuhörer die „Zeit zu vertreiben”, das heißt ihn zu unterhalten. — Paul Angerer hat mit seinem Orchester und seinen Solisten alle angeführten Kompositionen, besonders die eingangs gespielte Couperin- Suite, exakt und klangschön musiziert. Es war ein echtes Divertissement — wenn auch nicht mehr.

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