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Der letzte aus der „Gruppe der Six“

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Darius Milhaud, am 4. September 1892 in Aix-en-Pro-vence geboren, stammt aus einer jener zahlreichen jüdischen Familien, die noch vor Beginn der Römerzeit in der Gegend um Avignon ansässig waren und später, unter dem Schutz der päpstlichen Legaten, weder Diskriminierung noch Verfolgung erdulden mußten und die sich, wohlhabend und gebildet, jahrhundertelang frei entwickeln und im gleichen Land leben konnten.

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Darius Milhaud, am 4. September 1892 in Aix-en-Pro-vence geboren, stammt aus einer jener zahlreichen jüdischen Familien, die noch vor Beginn der Römerzeit in der Gegend um Avignon ansässig waren und später, unter dem Schutz der päpstlichen Legaten, weder Diskriminierung noch Verfolgung erdulden mußten und die sich, wohlhabend und gebildet, jahrhundertelang frei entwickeln und im gleichen Land leben konnten.

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Einem Vortrag, den Milhaud in Mills College (Oakland) und 1968 auch in Wien gehalten hat, gab er den Titel „Ma vie heureuse — mein glückliches Leben“. Glück hatte Milhaud bereits mit seinem Elternhaus, speziell mit seinem Vater, der sich dem Wunsch des Sohnes, Musiker zu werden, nicht widersetzte, sondern den 17jäh-rigen aufs Conservatoire nach Paris schickte. Hier waren Widor, Dukas, Rabaud, Leroux, d'Indy und Gedalge seine Lehrer. Die stärksten Eindrücke empfing der junge Musiker von den Partituren Debussys, besonders von „Pelleas et Melisande“, und von Mussorgskys „Boris Godunow“.

Als 20j ähriger lernte er Paul Claudel kennen, der ihn 1916 an die französische Botschaft nach Rio als seinen Sekretär berief. Hier schrieb Milhaud den 2. Teil der „Orestie“ nach Aischylos, die Claudel nachgedichtet hatte („Les Choephores“) und begann die Partitur der „Eumenides“, hier komponierte er das Ballett „L'homme et son desir“, lernte er die südamerikanische Folklore kennen. Und hier lebte er in jenem Milieu, in dem seine „südamerikanische Trilogie“ spielen sollte — die aber keineswegs als solche konzipiert war, sondern durch „zufällige“ Begegnungen mit den verschiedenen Dichtern bzw. ihren Stücken, entstand.

1918 kehrte Milhaud nach Paris zurück und schloß sich mit Ho-negger, Auric, Poulenc, Durey und Germaine Tailleferre zur Gruppe der „Six.“ zusammen — die mehr ein Freundschaftsbund als eine ästhetische Schule war. Immerhin vereinigte alle diese Musiker ihre Verehrung Erik Saties. Aber während Auric und Poulenc sich von der Ästhetik Cocteaus beeinflussen ließen und der alemannische Schweizer Honegger nicht frei war von deutschem Roman-tizismus (dem der Kathedralen und der modernen Maschinen), ist in Milhauds Werk der „lyrisme mediterraneen“ Klang geworden. Zu ihm hat sich Milhaud stets und ausdrücklich bekannt. „Ja, Heimatstadt und Heimatland sind wahrlich keine leeren Worte für mich; und Worte wie .lateinisch' und .mediterran' wecken in mir einen tiefen Widerhall“, sagte Milhaud einmal zu dem Pariser Musikkritiker Claude Rostand.

Bis zum Jahr 1939 lebte Milhaud in Paris, seit 1923 in einer bescheidenen Wohnung auf dem rechten Seineufer, am Boulevard Clichy, der zum Montmartre gehört, ganz dicht an der lärmenden Place Pigalle. — Nach Kriegsausbruch emigrierte Milhaud nach den USA, wo er am Mills College unterrichtete. Seit 1945 teilte er seine Zeit zwischen Paris, an dessen Conservatoire er eine Meisterklasse hatte, und der Neuen Welt. Vor allem aber war er viel auf Reisen, die er leidenschaftlich liebte, trotz der Behinderung durch eine rheumatische Lähmung, die ihn viele Jahre an den Rollstuhl fesselte. Aber, so meint er, das sei „ein kleines Leiden“, denn man könne seinen Rollstuhl nicht nur ins

Auto oder in den Zug heben, sondern auch in ein Flugzeug schaffen.

Von allem Anfang an zeigt sich bei Milhaud eine Vorliebe fürs Experiment: auf harmonischem, klanglichem und formalem Gebiet. Er wollte eine Musik schreiben, wie er sie zuweilen träumte: raffinierter und phantastischer, als die bisher bekannte. Bald bereichert er die Neuerungen Koechlins, Strawinskys und Schönbergs (die er genau kannte und studierte) um eine weitere: die Polytonalität. Sie entsteht durch Überlagerung von in verschiedenen Tonarten geführten Stimmen oder Akkorden. Die so entstehenden Harmonien befrie-

digten Milhaud mehr als die gewöhnlichen, denn ein polytonaler Akkord ist subtiler in seiner Zartheit und heftiger in seiner Ausdruckskraft. Durch Milhauds Verfahren wurde die Tonalität nicht aufgelöst (wovor er stets gewarnt hat), sondern eher betont —, freilich auf neue Art. Neuartig ist auch Milhauds Behandlung des Orchesters, das gelegentlich durch große Schlagwerkgruppen (bis zu 20 Mann) bereichert wird. In den 1914 begonnen „Choephores“ verwendet er zum erstenmal einen rhythmisch sprechenden Chor in einem Bühnenwerk u. a. m.

Man hat Milhauds umfangreiches Opus, das etwa 400 Nummern und sämtliche nur vorstellbare Gattungen umfaßt, mit einem Strom verglichen, einem mächtigen, vielarmigen Gewässer, das gelegentlich auch Steine und Sand mit sich führt. Man mag bei seinem Ambliok auch an einen Vulkan denken, der nicht nur Feuer, sondern auch Rauch, Geröll und Lava auswirft. Denn Milhaud schuf wie die verschwenderische Natur, und immer wieder gelangen ihm, neben Routinearbeiten, Werke von überwälti-

gender Kraft und solche von subtiler Zartheit. Allein mit den fürs Theater geschriebenen, angefangen von den Balletten „Le train bleu“ (nach einer Operette dansee von Jean Cocteau, 1924), über „Esther de Carpentras“ (Text Armand Lunel), „Maximi-lien“ (nach Werfeis „Juarez und Maximilian“) bis zu „Bolivar“ von 1943 (nach einem Stück von Supervielle) könnte man ein mehrwöchiges Festspiel bestreiten.

Um von der Vielfalt des Mil-haudschen Schaffens eine Vorstellung zu geben, schlagen wir das bis zum Jahr 1949 im Druck vorliegende Werkverzeichnis — ein keineswegs „schmales“ Bändchen — beim Jahr 1919 auf. Da stehen, nach zwei Psalmen, die reizenden Chansons „Les soirees de Petrograde“ nach Gedichten von Rene Chalupt. Hierauf folgen die Pastoralen für Singstimme und sieben Instrumente „Machines agricolss“, in denen die Vorzüge dieser ländlichen Ungetüme so charmierend beschrieben werden, daß man versucht ist, sein Klavier abzustoßen und sich einen Mähdrescher im Salon aufzustellen. Die nächste Nummer führt den Titel „Le boeuf sur le toit“ und den etwas enigmati-schen Untertitel „Cinema-Fantai-sie“, natürlich nach Jean Cocteau.

Das alles stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 19,19, in dem Milhaud als erster namhafter westlicher Komponist einen Besuch im neuen, nachrevolutionären Rußland machte. Im Jahr drauf schrieb er eines seiner anmutigsten Divertissements, den „Ca- -talogue de fleurs“ auf Werbetexte, wie man sie in jenen Broschüren findet, die uns die Blumenhandlungen und Sämereien im Frühjahr ins Haus schicken. Gemeinsam mit seinen Freunden von der Gruppe der „Six“ komponierte Milhaud einige' Nummern für die Operette „Les maries de la Tour Eiffel“ (deren Partitur bis vor kurzem verschollen war) und 1923 die Musik zu dem Ballett „La Creation du monde“, dessen Libretto Blaise Cendrars nach einem Negermärchen angefertigt hatte. Es wurde 1923, von Fernand Leger ausgestattet, durch die „Ballets sue-dois“ uraufgeführt und machte vor allem wegen der darin erstmalig verwendeten Urwaldrhythmen und Saxophonklänge Furore.

Wir blättern weiter in dem Katalog und halten, 25 Jahre später, bei den Streichquartetten Nr. 12 und 13, die man sowohl einzeln wie gleichzeitig, als Oktett, spielen kann. Wir ergänzen noch die Oper „Le Roi David“, die Milhaud auf Bestellung zur 3000-Jahr-Feier für Israel, und zwar auf einen hebräischen Text seines Freundes Armand Lunel, geschrieben hat und die 1954 in Jerusalem uraufgeführt wurde. Und wir beenden unsere kurze Übersicht mit der Erwähnung eines Werkes, das Milhaud besonders teuer war: der Vertonung von Teilen aus der Friedensenzyklika Johannes' XXIII., die in Notre-Dame aufgeführt wurde und eine Einladung des Komponisten nach Rom zur Folge hatte: zu einem „ökumenischen Konzert“, bei dem Milhaud, der gläubige Jude, zur Linken, Strawin-sky, der Orthodoxe, dessen „Psalmensymphonie“ man spielte, zur Rechten Pauls VI. saßen. Von den vielen glücklichen Stunden seines Lebens war diese, wie Milhaud bekannte, die glücklichste.

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