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Sein glückliches Leben

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ALS DER GROSSE ALTE MANN der französischen Moderne, Darius Milhaud, vor Studentinnen des Mills College von Oakland (USA) einmal über sein Leben plauderte und dies als ein glückliches bezeichnete, hatte er den Eindruck, wenig interessierte, teilweise unaufmerksame Hörerinnen zu haben. Am nächsten Tag sprach ihn eines der Mädchen an und machte ihm das Geständnis, es habe die Nacht nach diesem Vortrag nicht schlafen können. Denn wie könnte ein Mensch von heute es wagen, sein Leben als ein glückliches zu bezeichnen? Keine schwere und unverstandene Jugend, ohne Familienkonflikte und künstlerische Krisen, nicht einmal Ehekonflikte und Scheidungen, auch keine pathologisch veranlagten Kinder. (Den Rollstuhl, an den Milhaud seit vielen Jahren gefesselt ist, bezeichnet er als „ein kleines Leiden”, denn man kann ihn nicht nur ins Auto und in die Bahn, sondern sogar in ein Flugzeug heben.)

UBER „MEIN GLÜCKLICHES LEBEN” sprach der 76jäh- rige Darius Milhaud im Rahmen der Woche zeitgenössischer französischer Musik in der Hanusdigasse. Das Glück seines Lebens begann damit, daß sein Vater, ein wohlhabender pro- Venzalischer Kaufmann (Mandeln en gros) seiner Ausbildung als Musiker nicht nur nichts in den Weg gelegt, sondern diese auch nach Kräften gefördert hat. Er verlangte von seinem Sohn nur, daß er die Matura mache, was dieser auch ohne Schwierigkeiten zuwege brachte. Glück hatte er mit seinen Lehrern am Conservatoire in Paris, vor allem mit Gedalge, dem er „alles verdankt”. In dessen Klasse lernte er den gleichaltrigen Schweizer Arthur Honegger kennen, mit dem ihn, trotz verschiedener Anlagen und Vorlieben, eine lebenslange Freundschaft, bis zu Honeggers Tod, verband. Eine Freundschaft, die weder allzu eifrige Parteigänger, noch die Frauen der beiden Komponisten zu stören vermochten.

EIN GLÜCKSFALL SEINES LEBENS war die frühe Begegnung mit Paul Claudel, den er bereits im Alter von 20 Jahren in Frankfurt traf. In jenen frühen Jahren wurde bereits der Plan der später so grandios verwirklichten „Orestie” besprochen und fixiert. — Während des ersten Weltkrieges (1916) ging Milhaud mit Claudel nach Brasilien in die französische Botschaft. Nach Paris zurückgekehrt, schloß er sich mit einigen Freunden zur „Gruppe der Six” zusammen, von der noch vier am Leben sind. Und obwohl man sich kaum größere Gegensätze vorstellen kann als zwischen Poulenc und Honegger oder zwischen Auric und Milhaud, hat das ihrer Freundschaft nicht geschadet. Von diesem Geist der Kameradschaft und der sich über vier Jahrzehnte erstreckenden stets gleichbleibenden Verbundenheit wünscht Milhaud auch den heutigen Komponisten etwas… Sie alle verehrten Eric Satie, diesen originellen und unabhängigen Geist, den Verächter des Geldes und bürgerlicher Saturiertheit, der ein Freund der Jungen war, die er um sich scharte. Von ihm, so meint Milhaud, habe er die Liebe zur Jugend geerbt. Denn er unterrichtet gern und hat Schüler in zwei Kontinenten.

WÄHREND UND NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG HABEN Milhaud und seine Freunde die Partituren ihrer Wiener Kollegen Schönberg, Berg und Webern mit dem größten Interesse studiert. 1922 machten er und Poulenc einen Besuch bei Schönberg und dessen Freunden und knüpften Beziehungen an, die weder durch die Verschiedenheit der Kunstanschauung und Methode noch durch die folgenden schlimmen Jahre gestört wurden. (Dabei war die Verständigung mit Webern und Berg schwierig, da beide weder Französisch noch Englisch, die beiden Franzosen aber kein Wort Deutsch konnten.) Von dieser Kollegialität ist bei den Anhängern und Schülern der „Wiener Schule” in den verschiedenen Ländern leider nicht viel vorhanden …

ZWEI GROSSE GLÜCKSMOMENTE seines Künstlerlebens dankt Milhaud Berlin: hier wurde (unter Erich Kleibers Leitung) 1930 seine große Oper „Christophe Colomb” uraufgeführt, und hier sah er 1963 zum erstenmal die „Orestie”, auf deren Aufführung er 41 Jahre warten mußte. In Wien fand er, in der Person Emil Hertzkas, des Leiters der Universal-Edition, seinen ersten und treuesten Verleger.

DEN LETZTEN UND GRÖSSTEN „Glücksmoment” erlebte Milhaud in Rom. Nachdem er Teile der Friedensenzyklika Johannes XXIII. vertont hatte, wurde er einige Jahre später von Paul VI. zu einem „ökumenischen Konzert” eingeladen. Es wurden je ein Werk des Katholiken Malipiero, des Protestanten Sibelius, des Orthodoxen Strawinsky („Psalmensymphonie”) und Milhauds, des Juden, alttestamentarische „Psalmen” aufgeführt. Zur Rechten des Papstes saß bei diesem Konzert Strawinsky, zur Linken er selbst. Das war, von den vielen glücklichen Stunden seines Lebens, vielleicht die größte und glücklichste.

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