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Ein Oratorium von Claudel und Honegger

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„Um angemessen über Claudel zu sprechen, müßte man alles auf einmal sagen und sein gesamtes Werk ausbreiten: in seinem Reichtum, in seiner unendlichen Vielfalt und seiner tiefen Einheit. Besser freilich wäre es, zu schweigen.“ So schreibt einer der frühesten Biographen und Landsmann des Dichters, Jacques Riviere. In der Tat ist Claudels Person und Werk, welches fremdartig wie ein Findlingsblock in der französischen, ja in der gesamten neuen europäischen Literatur steht, mit wenigen Worten nicht zu umschreiben. Der 1868 Geborene wuchs in aufklärerischer Umwelt auf; als er 1883 mit einem Schulpreis ausgezeichnet wurde, hielt Renan, der Positivist und späte Sohn des Dixhuitieme, die Festrede. Drei Jahre später wohnte Claudel dem Weihnachtsgottesdienst in Notre-Dame bei. „Ich stand in der Menge beim zweiten Pfeiler am Choreingang, rechts,“ an der Sakristeiseite. Und da vollzog sich das Ereignis, welches mein ganzes Leben beherrschte. In einem Augenblick war mein Herz berührt, und ich glaubte. Ich glaubte mit einer solchen Kraft des Angezogeh-werdens, mit einer solchen Aufwallung meines ganzen Wesens, mit einer so mächtigen Überzeugung, mit einer solchen Sicherheit, die keinem irgendwie gearteten Zweifel Raum ließ, daß seitdem alle Bücher, alle Überlegungen, alle Zufälle eines bewegten Lebens meinen Glauben nicht haben erschüttern, ja nicht einmal wirklich haben berühren können.“ In Claudels Werk ist dieser Glaube nichts Statisches, sondern dargestellt als ein Ringen der Seele mit Gott, dem sie sich am Ende unterwirft. Die Sehnsucht seiner Menschen ist, in die Notwendigkeit einbezogen zu werden, „d'accomplir la loi“, das Gesetz zu erfüllen. So ist bereits das 1892 entstandene Drama „La jeune fille Violaine“ (die Vorform der „Verkündigung“ von 1912) eine Verherrlichung des Opfergedankens.

Der Gedanke des Opfers, des unbedingten Gehorsams, des Einverständnisses, im Martyrium verwirklicht, beherrscht auch die elf Szenen des dramatischen Oratoriums Johanna auf dem Scheiterhaufen“. Die himmlischen Stimmen mit ihrem dreimaligen Anruf: „Jeanne!“ eröffnen das Werk, und im Kinderchor, den reinen Menschenstimmen, verklingt es:

„Niemandem war eine größere Gnade, denn sein Leben zu weihen dcirf, den er liebt.“

Dieser Bogen überwölbt eine Folge von Szenen, in welchen die Erde spricht, da „Johanna den Tieren ausgeliefert“ ist, wo die Könige im „Kartenspiel“ Johannas irdisches Los entscheiden, da „der König nach Reims zieht“ und Johanna die gute Sache des „Schwertes der Jungfrau“ gegen die Anklage der Ketzerei verteidigt.

Der hochtalentierte und vielseitige Westschweizer. Arthur Honegger, der in Frankreich seine Wahlheimat fand und unter die französischen Komponisten zu zählen ist, gehörte zur berühmten Gruppe der „Six“; er hat mit einigen symphonischen Dichtungen dem Zeitalter der Technik und des Sports gehuldigt (Pacific 231, Rugby) und umkreist in den späteren Werken immer wieder die dramatische Form: in Begleitmusiken zu Bühnenszenen und Radiospielen, im szenischen Oratorium und in biblischen Drama. Bereits 1921 schrieb Honegger den symphonischen Psalm „König David“, hierauf das biblisdie Drama „Judith“, die Tragödien „Antigone“ und „Phädra“, zuletzt die sakralen Chorwerke „Totentanz“ und „Nikolas von der Flüe“. Die Partitur des Jeanne-d'Arc-Oratoriums wurde 1935 vollendet, den Chorprolog, in welchem wir die Stimme Frankreichs während der Besetzung zu hören glauben, schrieb er 1944.

Ein gewaltiges Ensemble von Chören, Sprechern und Sängern, den Hauptträgern der Handlung, wird vom Komponisten aufgeboten. Mit dem eigenartig zusammengesetzten Orchester, das unter anderem drei Saxophone, großes Schlagwerk und ein Elektrotoninstrument (Martenot-Wellen) enthält, vermag der Komponist jede Klangwirkung zu erzielen. Daß es aber bei Honegger nicht um äußerliche Effekte und Klangspiele geht, zeigt ein Blick in die Partitur; dafür bürgt auch der Name des Autors. Der Eigenart der Claudeischen Dichtung, den gegensätzlichen Stimmen, die in dem Werke zu Wort kommen, entsprechen auch verschiedenartige Stilelemente der Musik: Volkschöre, als cantus firmus, werden von eingesprengten Sprechstimmen kontrapunktiert, in gregorianischen und — mit ihrer reichen Melismatik — fast ambrosianisch anmutenden Melodien spricht eine andere Welt, volksliedartige Teile stehen neben höfisch-galanten, parodistisch und persiflierend werden sogar Jazzelemente benützt. Alles aber — und darin erblicken wtr das eigentlich Kongeniale, das zutiefst Wesensverwandte zwischen Textdichter und Komponist — ist durch die starke Persönlichkeit Honeggers zur Einheit gebunden und zu einem dramatischen Ganzen geformt. Zu einer Einheit, die sich vielleicht nicht beim ersten und einmaligen Hören ganz erschließen wird. Aber welches bedeutende Kunstwerk schenkt sich uns ganz beim ersten Sehen, Hören oder Lesen?

Mit diesem gehaltvollen und schwierigen Werk, das von Dr. Reinhold Schmid einstudiert wurde und von dem Schweizer Dirigenten Paul Sacher erstaufgeführt werden wird, eröffnet die Wiener Konzerthausgesell-sdiaft das 1. Internationale Musikfest im Rahmen der Wiener Theater- und Musikwochen, der ersten Großveranstaltung dieser Art nach dem Kriege. Die Wiener Symphoniker, der Lehrer-a-cappella-Chor, die Wiener Singakademie, der Kammerchor der Staatsakademie und die Wiener Sängerknaben werden ■ bei der Aufführung mitwirken. Die Partien der Sprecher und Sänger werden von unseren besten und erfahrensten Künstlern betreut, und so kann man hoffen, daß dies bedeutende und interessante Werk uns auch in würdiger Form vorgestellt werden wird.

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