"Es ist gefährlich, immer an der Grenze des Möglichen zu leben"

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die furche: Wie geht es dem Sozialminister eines Landes, in dem aufgrund von wirtschaftlichen Reformen ein rigoroser Sparkurs gefahren wird?

iwan sachan: Die ersten zehn Jahre in der Unabhängigkeit waren für die Ukraine wirtschaftlich sehr schwer, was nicht ohne negative Auswirkungen auf die soziale Lage blieb. Aber es zeichnet sich jetzt ein Wirtschaftsaufschwung ab, der zur Hoffnung auf Verbesserungen im Sozialbereich Anlass gibt.

die furche: Wo sehen Sie positive Veränderungen?

sachan: Schwierig aber auch enorm wichtig war die im letzten Jahr umgesetzte Einführung der Sozialversicherung. Aber wir sind noch immer in einer Umbruchsphase, in der es gilt, die Reste des alten sowjetischen Systems der gleichen Begünstigung für alle zu beseitigen.

In der Ukraine gibt es bei 50 Millionen Einwohnern 14 Millionen Rentner, zweieinhalb Millionen Invalide und ungefähr drei Millionen Kriegsveteranen. Dazu kommt eine Arbeitslosenrate von 11 Prozent - jetzt können Sie sich die Relationen vor Augen führen und das Ausmaß der Schwierigkeiten erahnen.

die furche: Wie steht es mit der Versorgungssituation in der Ukraine?

sachan: Heuer hat die Ukraine mehr als 38 Millionen Tonnen Getreide geerntet. Natürlich gab es früher Jahre, in denen wir noch mehr produzieren konnten, aber nach so einem Wirtschaftsumbruch ist das ein gutes Zeichen.

die furche: Sie sind jedoch weiter von Lebensmittelimporten abhängig?

sachan: Importe wird es immer geben. Faktum ist aber, dass 95 Prozent der Lebensmittel aus ukrainischer Produktion stammen. Und es schaut überhaupt so aus, als ob die Ukrainer jetzt wieder verstärkt auf heimische Qualität setzen. Was aber nichts daran ändert, dass der Ukraine vor allem Absatzmärkte fehlen.

die furche: Sind Sie enttäuscht über die zögerliche Haltung der EU?

sachan: Ja, die Ukraine hat viel für die Welt und für Europa getan, indem es auf eines der größten Atompotenziale, damit auf einen bedeutenden Teil an Energie und auf Tausende Arbeitsplätze verzichtet hat. Die Solidarität und Unterstützung der Welt hält sich aber in Grenzen.

die furche: Fürchten Sie eine Energiekrise im kommenden Winter?

sachan: Wir werden diesen Winter, so wie den vorigen, ohne große Probleme überstehen. Es ist aber gefährlich, immer an der Grenze des Möglichen leben zu müssen.

die furche: Fürchten Sie um den sozialen Zusammenhalt in der Ukraine?

sachan: Die Formierung einer Mittelklasse ist die aktuelle Herausforderung in der Ukraine. Der Präsident hat das zur Regierungsaufgabe Nummer 1 gemacht, und die Regierung arbeitet intensiv an einem Programm zur Überwindung der Armut.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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