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Anschluß an Mitteleuropa

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Zu den letzten legislativen Arbeiten des spanischen Parlaments vor Ferienbeginn gehörte die Verabschiedung des während drei Monaten debattierten und in ganz Spanien sehnlichst erwarteten Erziehungsgesetzes, das dem Land die durchgreifendste Schulreform seit 1857 bringt. Das in der spanischen Erziehungsgeschichte als revolutionär betrachtete Gesetz beschert den Spaniern Errungenschaften, die in den meisten Ländern der westlichen Welt seit Jahrzehnten als selbstverständlich gelten: Schulpflicht, Schulgeldfreiheit vom 6. bis zum 14. Lebensjahr und die Vereinfachung der bisher etwas komplizierten Aufgliederung der höheren Schulbildung.

Mit dem im Herbst beginnenden Schuljahr soll das Gesetz progressiv angewendet werden. Für die Durchführung der gesamten Reform sind jedoch zwölf Jahre vorgesehen. Angefangen wird mit Grundschulzwang und Schulgeldfreiheit. Für diejenigen Kinder, die nach dem 14. Lebensjahr keine höhere Schulbildung anstreben, ist — ebenfalls obligatorisch und kostenlos — eine berufsschulische Weiterbildung vorgesehen. Die für die Sekundärschulbildung geplanten Reformen sind besonders die Abschaffung der Unterteilung bis zur Reifeprüfung in einen wissenschaftlichen und einen literarischen Teil, sowie die des Werksabiturs. Bei der Hochschulbildung werden zwei Ausbildungsabschnitte und zwei Arten von Abschlußtiteln eingeführt. Neu ist auch, daß das Studium des Journalismus der Universität eingegliedert und damit der Kompetenz des Informationsministeriums entzogen wird.

Für die praktische Anwendung des Gesetzes hat das spanische Parlament innerhalb des laufenden Staatshaushalts dem Erziehungs-ministerium einen außerordentlichen Kredit von 8,35 Milliarden Peseten bewilligt. Für die Gesamtreform sollen jedoch in den nächsten zwölf Jahren 690,9 Milliarden Peseten vom Staat aufgebracht werden.

Die Reform stützt sich auf das 1968 unter dem derzeitigen Erziehungsminister, Jose Luis Vülar Palasi, ausgearbeitete Weißbuch, das dem Parlament bereits im Februar des vergangenen Jahres vorgelegt worden ist. Kurz nach seiner Veröffentlichung wurden die ersten Kritiken laut. Ein Bericht des nationalen Schulsyndi-kats und ein weiterer, aus offiziellen Universitätskreisen stammender, sahen die darin festgesetzte Grundschulausbildung als zu kurz an und forderten ihre Erweiterung bis zum 16. Lebensjahr. Eine im Mai und im Juni 1969 durchgeführte Meinungsbefragung der Hausfrauen aller sozialen Schichten und Altersklassen führte zu einem ähnlichen Ergebnis: sie wünschten übereinstimmend die Einführung der Schulpflicht vom 4. bis zum 15. Lebensjahr. Daß diese

Wünsche im Erziehungsgesetz nicht berücksichtigt werden konnten, liegt vor allem im Finanziellen begründet: Spanien mußte bei der Weltbank einen Kredit von 1,5 Milliarden Peseten zur Ingangsetzung der Schulreform aufnehmen. Ursprünglich enthielt der von der Regierung dem Parlament vorgelegte Gesetzesentwurf einige Artikel über eine Steuerreform, aus der ein Großteil der für die Realisierung des Gesetzes benötigten Gelder flüssig gemacht werden sollte. Sie sahen Direktsteuern für die Banken und eine Umsatzsteuer vor, die jedoch von den Parlamentsabgeordneten verworfen wurden. Nicht nur wurde durch diese Entscheidung das Staatsbudget schmerzlich belastet, sondern der Staat verlor damit eine Gelegenheit, die so dringend notwendige und seit geraumer Zeit geforderte Steuerreform durchzuführen. Das erste der mannigfaltigen Probleme, dem sich die Schulreform gegenübersieht, ist der in Spanien chronische Mangel an Grundschulen. Nach Angaben des Weißbuches fehlen 300.000 Grundschulplätze --50.000 davon allein in Madrid — und immer noch 12 Prozent der spanischen Kinder im schulpflichtigen Alter besuchen überhaupt keine Schule. Hinzu kommt der Mangel an Gymnasien und Universitäten, quantitativ und qualitativ unzureichendes Lehrpersonal. Doch Erziehungsminister Villar Palasi ist optimistisch: Er hofft, daß Spanien in zweieinhalb Jahren über ausreichende und ausreichend geschulte Lehrkräfte verfügen wird, um die spanische Gesellschaft schrittweise umzugestalten. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, daß Spanien dann die es von Resteuropa trennende Bildungslücke aufgeholt haben wird. Bei einer programmmäßigen Verwirklichung der Schulreform wird sich der durchschnittliche spanische Schulabsolvent in zehn Jahren auf dem Niveau befinden, das heute für Mitteleuropa gilt.

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