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Biwak an der Schulpforte

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Vor dem Institut für industrielle Technik „Galileo Galilei“, eine der wenigen Fachschulen Roms, hat in den ersten Septembertagen eine größere Menschenschar im Freien biwakiert. Es handelte sich jedoch nicht um einen improvisierten Carrrpingfläftz, noch um effierf 'Sitzstreik protestierender ArDeiftroserV noch,DtMPlDemor|-stranten gegen die Atomaufrüstung; die hier nächtigenden Personen waren nur die Eltern von Knaben, welche in dem Institut als Schüler eingeschrieben werden sollten oder die jungen Studenten selbst, die sich Aufnahme und Platz im

„Galileo Galilei“ sichern wollten. Der Andrang zur Fachschule ist enorm; denn sie hat nicht nur Rom zu dienen, sondern auch den Provinzen Livorno, Pisa, Aquila, Chieti, Latina und Neapel, wo es keinerlei derartige Lehranstalten für die Ausbildung des industriellen Technikers gibt.

Die hier verzeichnete Episode, typisch für eine gewisse Situation, bildet gewissermaßen ein „Pendant“ zu einer anderen bedenklichen Tatsache: 95 Prozent aller von den Arbeitsämtern für die Stellenvermittlung in Evidenz gehaltenen Arbeitslosen sind ohne irgendwelche berufliche

Vorbereitung. Von den 530.000 Jugendlichen, die einen ersten Arbeitsplatz anstreben, können 65 Prozent bestensfalls als Taglöhner verwendet werden. Und je mehr man sich in die Statistiken über den Stand der Schulbildung und der beruflichen Vorbereitung in Italien vertieft, desto unglaublichere Verhältnisse treten einem entgegen. Das schulpflichtige Alter reicht auch in Italien bis zum 14. Lebensjahr. Aber während in den Vereinigten Staaten 81 Prozent die mittlere Stufe der Pflichtschulen absolvieren und in England, Frankreich und Deutschland zwischen 40 und 50 Prozent, sind es hier nur 25; die Mittelschulreife erlangen überhaupt nur 9 Prozent. Im Schuljahr 195 5/56 gab es in Italien zweieinhalb Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter zwischen elf und vierzehn Jahren; aber nur wenig mehr als 900.000 von ihnen haben sich wirklich in den Schulen einschreiben lassen.

Aber die Situation wird tragisch und grotesk zugleich bei einer anderen Ueberlegung: angenommen, die schulpflichtigen Kinder hätten sich wirklich in geschlossener Disziplin am 1. September bei der Schulpforte eingestellt; der Staat wäre in größte Verlegenheit geraten, denn es fehlt sowohl an Räumen wie an Lehrpersonen, um den Unterricht zu garantieren. Nach offiziellen Angaben mangelt es an 69.000 Schuld räumen, das sind 41,9 Prozent des Bedarfs, und an fast ebenso vielen Lehrkräften. Fast ein Fünftel der heute existierenden 39.000 Elementarschulen besitzt noch nicht die vorgeschriebenen fünf Klassen. Die wirtschaftliche Schwäche so vieler Familien, besonders im Süden, begünstigt die Flucht aus der Schule. Nur zu gerne schicken die Eltern ihre Kinder lieber auf die Felder als in die Schule. Rund eine halbe Million Kinder entzieht sich alljährlich der Schulpflicht. 1951 (das Jahr der letzten Volkszählung) war eine Million Schüler in die erste Kiasse eingetreten; im Schuljahr 195 5/56 waren von ihnen nur noch 650.000 in der fünften; ein Drittel war auf dem Wege verloren gegangen. Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, daß das Heer der Analphabeten 1951 nicht weniger als 5,5 Millionen zählte. Die bisher angewendeten Mittel zur Bekämpfung des Analphabetentums, einige Nachholkurse für Erwachsene in Abendschulen, kamen an Wirkung dem einer Kopfschmerztablette bei Lungenentzündung gleich. Mit jedem Jahr kommen weitere 30.000 neue Rekruten der Ignoranz hinzu. Noch eine Zahl: ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung Italiens besitzt nicht einmal das Abgangszeugnis der Elementarschule.

Aber nun hat Italien den Heiligen Krieg gegen die Unwissenheit ausgerufen. Im Lichte der gegenwärtigen Bildungslage gesehen, kommt dem Zehnjahresplan der Regierung Fanfani für

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