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Kreuzzug für das Abc

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Die Zahl der Analphabeten in Spanien ist im Verlauf von zehn Jahren um mehr als vier Prozent gesunken, entnimmt man den Ergebnissen der vorjährigen Volkszählung. Von einer Gesamtbevölkerung von 30,5 Millionen Spaniern sind 10,3 Prozent, also mehr als drei Millionen Menschen — etwa die Einwohnerzahl von Berlin oder erheblich mehr als die Hälfte der schweizerischen Bevölkerung —, des

Lesens und Schreibens völlig unkundig. Trotz der Fortschritte auf dem Gebiet der Volksbildung ist die Menge der Spanier, die nie in ihrem Leben eine Schule besuchten, noch immer erschreckend groß. Sie ist zudem gut doppelt so groß als die statistischen Unterlagen uns melden, da ja sehr viele von denen, die nicht mehr als Analphabeten zählen, bestenfalls ihren Namen schreiben, den Fußballtotozettel ausfüllen und bloß die Titel einer Zeitung entziffern können. Würde man gar den Bildungsstand der Nation nach ihrer Vertrautheit mit den vier Grundrechenoperationen bemessen, käme man zu der Ansicht, halb Spanien hätte noch Nachhilfestunden nötig. Denn mit Zahlen stehen auch Personen auf dem Kriegsfuß, die sich ihrer Abschlußzeugnisse höherer Schulen brüsten.

Opferwillige Kämpfer gegen den Analphabetismus

Freilich, wir haben wenig Anlaß, die Nase zu stark über die spanischen Zustände zu rümpfen f Betrachtet man zum Beispiel manche Prüfungsergebnisse bei uns daheim, wird man an den pädagogischen Fähigkeiten unserer Bildungsanstalten irre. Anerkennenswert ist dagegen in Spanien, daß man sich von kommunaler, privater und staatlicher Seite Mühe gibt, den Übelständen zu Leibe zu rücken.

So schickt jetzt ein Universitätshilfswerk 400 Studenten in die Provinz Granada — in das liebliche, von Touristen hoch angestaunte Granada —, wo, nach offiziellen Angaben, mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus Analphabeten besteht. Die Opfer, die die 400 jungen Leute bei ihrem Kreuzzug in den erdrückend heißen Monaten Juli und August gegen die totale Unbildung zu bringen haben, sind wahrhaftig nicht gering! In dem Rundschreiben des Hilfswerkes heißt es: „Feste Arbeitszeiten gibt es nicht, die Arbeit ist hart und unbequem, Taggelder werden nicht entrichtet, und bei Eisenbahnfahrten wird nur die dritte Klasse benutzt.“ Wer weiß, wie diese Waggonart hierzulande aussieht, n kann ermessen, was die freiwilligen Helfer! im Kampf gegen Unwissenheit und Aberglauben allein schon auf der Fahrt in den „fröhlichen Süden“, wo er am trostlosesten und dunkelsten ist, auf sich nehmen I

Lehrer haben nichts zum Leben

Man fragt sich oft, wer oder was daran schuld ist, daß es in einer Nation, deren geistige Eliten zu den höchststehenden des Abendlandes gehören, noch immer drei Millionen Analphabeten gibt. Trägheit, Nachlässigkeit, der unglückselige Einfluß arroganter Dorfgewaltiger spielen dabei eine große Rolle. Die entscheidende Antwort dürfte aber das Organ der staatlichen Syndikate gegeben haben, das ... dem Staat die Verantwortung für die Verhältnisse aufbürdet. Das Blatt veröffentlicht Briefe von Lehrern, die in der beklemmenden Unterbezahlung eines der wichtigsten Staatsdiener die Ursache des Übels sehen: „Mehr als die Hälfte der spanischen Lehrer“, lesen wir in einer Zuschrift, „verdient nicht genug, um die Pension in dem bescheidensten Dorfkrug zu bezahlen.“ AnderSwo heißt es: „1936 (vor Ausbruch des Bürgerkrieges) lag das Jahresgehalt eines Lehrers bei 3000 bis 4000 Pesetas. Entsprechend der Erhöhung des Volkseinkommens müßte sich unsere jetzige Bezahlung auf 50.000 Pesetas belaufen, beträgt aber in Wirklichkeit bloß 28.850 Pesetas.“ Allerdings sind dazu noch Gratifikationen und Zulagen zu rechnen, die aber noch immer nicht erlauben, daß ein Lehrer nur von seinem Sold lebt, sondern ihn zu zeitraubenden Nebenarbeiten zwingen, natürlich auf Kosten des Unterrichts.

Die Wurzeln des Übels

Ferner erfährt man: „Während andere Staatsbeamte ihre Sonderbezüge längst erhalten haben, konnten wir die unseren administrativer Schwierigkeiten wegen noch nicht beziehen. Sollte es möglich sein, daß innerhalb von vier Monaten die Zeit nicht aufgebracht wurde, diese Hindernisse zu beheben? Der Gipfel aber ist, daß man uns kürzlich die Einkommensteuer (für noch nicht bezahlte Gratifikationen) vom Vierteljahresgehalt abzog.“ Angesichts dieser Zustände wundert man sich nicht, daß es in einem Brief, publiziert von einem zensierten Blatt, heißt: „Lim der Liebe Gottes willen, hört auf mit den aufreizenden (sozialen) Ungleichheiten!“ Es dürfte also klar sein, wo die Ursachen für das Vorhandensein von drei Millionen Ganz- und mindestens ebenso vielen Halbanalphabeten in Spanien liegen und was geschehen muß, damit endlich das „Grabmal des unbekannten Analphabeten“ eingeweiht werden kann, an Stelle von Denkmälern für Politiker, die im nächsten Dorf schon niemand kennt, für Eintagsberühmtheiten oder Helden aus längst versunkenen Glanzzeiten.

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