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Die berüchtigten drei Kreuze

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Rom, im November Seit dem 1. Oktober ist der „Notstandsplan“ des Unterrichtsministers Paolo Rossi (Sozialdemokrat, 56 Jahre) in 23 Provinzen in Kraft getreten. Es handelt sich um eine Art Radikalkur ,zur Heilung oder Linderung einer Erbkrankheit am italienischen Volkskörper, des Analphabetentums. Wird es Paolo Rossi gelingen, den Italienern- „das Alphabet zu schenken“? Diesen Vorsatz hatte bereits der erste Unterrichtsminister Italiens, Francesco De Sanc-tis, als er vor hundert Jahren durch den Reichsgründer Cavour in die Regierung berufen wurde. De Sanctis wollte den Italienern das Alphabet geben wie Frankreichs König Henri IV. allen Franzosen am Sonntag ein Huhn im Topf. Aber er scheiterte an seiner Aufgabe wie jeder Minister nach ihm. Uebri-geris gibt es auch viele Franzosen, die noch kein Huhn im Topf haben.

Fast hundert Jahre nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht (durch das Gesetz Casatis vom Jahre 1859 in Piemont, das später auf ganz Italien ausgedehnt wurde) ist die Zahl der des Lesens und Schreibens Unkundigen in Italien 5,5 Millionen, was rund 13 Prozent der Gesamtbevölkerung (über sechs Jahren) entspricht Die Ergebnisse der Volkszählung 1951 sind eben erst vom Zentralamt für Statistik bekanntgegeben worden und haben vorübergehend die öffentliche Meinung wachgerüttelt, die seit einem Jahrhundert von der Plage des Analphabetentums reden hört, bis sie es als eine Art Naturerscheinung betrachten lernte. Aber die Statistik ist eine merkwürdige Wissenschaft, stellte schon der römische Volksdichter Trilussa fest, sie teilt jedem Italiener ein Huhn im Jahre zu, auch denen, die nie eines zu Gesicht bekommen. Auch in diesem Falle sündigt die Statistik durch Schönmalerei, denn sie trifft einen mitleidvollen Unterschied zwischen Analphabeten und „halben“ Analphabeten, der in Wirklichkeit nicht besteht. Diese Kategorie, <üe mühsam den eigenen Namen zu kritzeln versteht oder das Abc entziffern, aber niemals einen Brief, eine Zeitung oder gar ein Buch zu lesen vermag, umfaßt 7,6 Millionen Menschen. Das bringt die Gesamtziffer jener, die nicht einmal Elementarschulbildung aufweisen, auf 13,1 Millionen oder 30,1 Prozent.

Es dürfte in Westeuropa keines, im europäischen Osten nur wenige Länder mit ähnlich niedrigem allgemeinen Bildungsstand geben. Und dabei nennt man Italien oft „das Land der Doktoren“/ Aber die angegebenen Zahlen enthüllen immer noch nicht die wahren Zustände in ihrem ganzen, geradezu dramatischen Umfang. Sie lassen nämlich die regionale Verteilung der Analphabeten außer acht und zeigen nur einen Durchschnitt an, wobei der fortgeschrittene Norden den rückständigen Süden barmherzig stützt. Es gibt eine Region, wo das Analphabetentum nahezu nicht existiert: Südtirol-Trentino, mit 0,9 Prozent. In diesen bis 191* österreichischen Provinzen wirkt ein zivilisatorisches Erbe nach, das in gleicher Weise im Volkscharakter wie in der Verwaltungstradition wurzelt. Schon in Piemont und in der Lombardei betragen die Analphabeten 2,55 bzw. 2,67 Prozent. Steigt man jedoch über die Abruzzen hinweg nach den südlichen Regionen, so ändert sich das Bild in eindrucksvoller Weise: Kompanien hat 2? Prozent Analphabeten, Apulien 24, die Basilikata 29,1, Kalabrien 31,08 Prozent. Rechnet man aber die erwähnte Kategorie der „halben“ Analphabeten hinzu, so kommt man etwa in Kalabrien auf 58,79 Prozent. Hier gibt es allein 94 Gemeinden, wo die Zahl der Leute, die entweder nicht lesen kann oder nicht schreiben oder beides nicht, 75 Prozent erreicht!

Während die ersten Milliardenbeträge für die Entwicklung der Atomkraft ausgesetzt werden und die größten Industrieunternehmen ernsthaft mit der Automation beschäftigt sind, müssen Jahr für Jahr an die 200.000 Jugendliche in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden, die nur mit den berüchtigten drei Kreuzchen zu unterzeichnen vermögen. Wenn man sich vor Augen hält, daß in Süditalien mehr als die Hälfte der Bevölkerung, in ganz Italien fast ein Drittel am Rande der Zivilisation lebt, wird mit einem Schlage klar, wie das Analphabetentum ein weit ernsteres Problem, in soziologischer wie politischer Hinsicht, darstellt als jede andere Frage, inbegriffen der Vanoni-PIan, ein Entwicklungsschema zur Erreichung der Vollbeschäftigung.

Der italienische Philosoph Benedetto Croce hat die Erscheinung des Analphabetentums in einer eigenartigen, optimistischen Weise erklärt: er meinte, die große natürliche Intelligenz der italienischen Volksschichten veranlasse diese, wenig Eifer bei der Aneignung des Alphabets zu zeigen, während es anderswo als praktisches Hilfsmittel bei den Operationen des täglichen Lebens für die bürgerliche Existenz unumgänglich notwendig sei. Andere Soziologen sind weniger nachsichtig und führen die Ursache auf die Armseligkeit der wirtschaftlichen Existenz und auf eine eingeborene Indolenz zurück, die ihrerseits in einer jahrhundertelangen Vernachlässigung ihre Gründe hat. Zweifellos ist seit 1871, als Italiens Bevölkerung zu 69 Prozent, die Kalabriens zu 87 Prozent Analphabeten waren, ein tüchtiger Schritt nach vorwärts gemacht worden. Aber es gab auch Rückschläge, die zu denken geben. 1948 ist das Problem bei den Rekruten des Jahrganges 1927 studiert worden, und die Zahl der des Lesens und Schreibens Unkundigen ergab sich zwischen 60 und 80 Prozent liegend, während sich 1931, bei einer ähnlichen Untersuchung des Jahrgangs 1910, nur 37 bis 45 Prozent ergaben. Man braucht nur die Jahre bis zum schulpflichtigen Alter zurückzurechnen und erkennt ohne weiteres, daß der Rückschlag auf das Schuldkonto der faschistischen Zeit kommt.

Der „Notstandsplan“ des Unterrichtsministers Paolo Rossi, zuerst in sechs „Viersuchsprovin-zen“ wirksam, wird jetzt auf eine große Zahl weiterer Provinzen ausgedehnt. Er sieht nicht nur eine eindrucksvolle Vermehrung des Nachunterrichts in den sogenannten „scuole popu-lari“ vor, deren 17.000 Kurse bisher von 400.000 Schülern besucht wurden, sondern lenkt sein Augenmerk auch auf die Heranbildung geeigneter Lehrkräfte und schafft vor allem, zum erstenmal, jene notwendigen Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen Schuldirektion und Polizeibehörden, um die Disziplin der Schulpflicht zu erzwingen. Darüber hinaus werden Forderungen nach neuen Mitteln und neuen Schulorganisationen laut, um zu der Radikalkur der Ausmerzung des Analphabetentums schreiten zu können. Parlament und Regierung müßten einen organischen Plan studieren, andernfalls sei es unnütz, vom Vanoni-Plan und ähnlichen Initiativen zu sprechen. Hauptschwierigkeit aber ist das Budget des Unterrichtsministeriums, das, relativ genommen, eines der bescheidensten in Europa ist. Man braucht nur an die Schulbauten zu denken. Nach den offiziellen Angaben des Unterrichtsministeriums fehlten im Jahre 1955 rund 63.000 Schulräume nur für den Elementarunterricht, das sind 41,9 Prozent des Gesamtbedarfs. Das bedeutet anderseits, daß der Staat die Einhaltung der Schulpflicht nicht zu erzwingen vermag, weil er die Schüler nicht aufnehmen kann. Auch hier zeigt sich ein tragischer Unterschied zwischen den „beiden Italien“: im Süden ist der Bedarf an Schulräumen fünfmal so groß wie im Norden; aber während der Norden zwei Drittel der vom Staate zur Verfügung gestellten Gelder tatsächlich für Neubauten verwendete, tat es der Süden nur zu einem Fünftel. Mit anderen Worten: Wo der Bedarf an Schulen am dringlichsten wäre, um das Analphabetentum zu bekämpfen, werden die wenigsten Schulen gebaut.

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