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La Miseria

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In den letzten Jahren wurden von der italienischen Regierung und dem italienischen Parlament zum ersten Male in der Geschichte des geeinten Italiens Untersuchungen über das Elend („La Miseria“) durchgeführt. Deren Ergebnis wurde nun von dem Abgeordneten Vigorelli der Oeffentlichkeit bekanntgegeben; es ist erschütternd:

In Italien leben 232.000 Familien (2% der Bevölkerung) in Kellern, Dachböden und Lagerräumen. 92.000 Familien (0,3%) leben in Hütten und Höhlen.

1,078.000 Familien (9,3%) leben in überfüllten Wohnungen mit über drei Personen pro Raum; 1,391.000 Familien (12%) leben in Wohnungen mit über zwei Personen pro Raum.

869.000 Familien (7,5%) verbrauchen überhaupt kein Fleisch, keinen Zucker und keinen Wein (in Italien ein Volksnahrungsmittel); 1,032.000 Familien verbrauchen nur minimalste Quantitäten von diesen Nahrungsmitteln.

Die über elf Millionen italienischen Familien kann man gemäß ihrem Lebensstandard in vier Gruppen einteilen:

1,357.000 Familien (11,7%) leben im Elend;

1,345.000 Familien (11,6%) leben in Armut;

7,616.000 Familien (65,7%) leben in bescheidenen Verhältnissen;

1,274.000 Familien (11%) leben in wohlhabenden Verhältnissen.

Von den 1,357.000 im Elend lebenden Familien befinden sich 1,161.000 (4,600.000 Köpfe) in Süditalien und auf den Inseln.

Von den 1,345.000 in Armut lebenden Familien leben 925.000 (4,226.000 Köpfe) im Süden und auf den Inseln. In Prozenten ausgedrückt folgendermaßen:

In Norditalien leben im Elend 1,5%, in Mittelitalien 5,9%, in Süditalien 29,3%, auf den Inseln 24,8% der Einwohner.

Eine Untersuchung in Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium über die Veranlagungen und Eignungen der Rekruten des Jahrgangs 1932 ergab folgendes Resultat:

Der Prozentsatz der Analphabeten ist minimal in den nördlichen Provinzen (Mailand hat z. B. 0,30% Analphabeten und 0,35% Semianalphabeten), aber in ganz Italien gibt es Wehrbezirke, in denen die Zahl der Analphabeten zwischen 10 und 20% schwankt; in Mittel- und Süditalien gibt es Wehrbezirke mit 20 bis 30% Analphabeten; in Süditalien und auf den Inseln Wehrbezirke mit über 30% Analphabeten.

Die Eignungsstufe I erreichten in ganz Italien 17% der Rekruten des Jahrgangs 1932; davon z. B. 44,42% in Turin, 43,09% in Mailand, 39,17% in Genua und 34,29% in Brescia. Die Eignungsstufe IV erreichten in ganz Italien 33,21% der Rekruten; davon 72,45% im Wehrbezirk Agriment, 68,19% im

Ächtung des „ABC-Krieges“!

Papst Pius XII. empfing am 20. Oktober die Angehörigen des Internationalen Büros für Dokumentation für Militärmedizin. Er hielt dabei eine Ansprache, in der er internationale Abmachungen mit einem Verbot des afomischen, biologischen und chemischen Krieges, den er „Abc-Krieg“ nannte, forderte.

lieber diesen „Abc-Krieg“ sagte der Papst: „Die Frage, ob eine solche Kriegführung nötig ist, um dem ,Abc-Krieg' des Gegners zu begegnen, kann im Hinblick auf die gleichen Grundsätze entschieden werden, die heute für die Zulassung des Krieges im allgemeinen entscheidend sind. Vorher aber stellt sich eine andere Frage: Ist es nicht möglich, durch Internationale Vereinbarung den ,Abc-Krieg' zu ächten und auszuschalten! Es ist nicht nötig, zu betonen, dafj jeder Krieg als Verirrung des Geistes und des Herzens abzulehnen ist. Gewirj sind Seelenstärke und Mut bis zur Hingabe des Lebens, wenn die Pflicht es verlangt, grohe Tugenden. Den Krieg aber provozieren, weil er eine Schule der Tugenden und eine Gelegenheit, ist, sie zu üben, muh aber als Verbrechen und Irrsinn bezeichnet werden.“

Pius XII. trat dann für die Schaffung eines internationalen medizinischen Rechts

ein, dessen Bedeutung in Kriegszeifen er hervorhob. Das Schicksal des Krieges könne einen Arzt in die Hände des Gegners bringen oder ihm Kranke oder Verletzte anvertrauen. Er könne im eigenen oder im fremden Land bei den Siegern oder den Besiegten sein. Es stelle sich die Frage, welches Recht dann für seine Person und die Ausübung seines Berufes marigebend sei.

Zu den Ptlichfen der Aerzte übergehend, sagte Pius XII., dah diese sich nicht für neue Massenvertilgungsmethoden der biologischen und chemischen Kriegführung und für neue Verfahren zur Ausmerzung der politischen, nationalen und rassischen Gegner zur Verfügung stellen dürften. Auch alle Arten der Euthanasie gegenüber Verletzten, Verstümmelten oder Unheilbaren seien von den Aerzten abzulehnen. Weder während des Friedens, noch in Kriegszeiten dürften Verletzte, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiier und Deportierte Gegenstand von Experimenten sein.Wehrbezirk C.lunisetu, 67,38% in Enna usw. (die letztgenannten drei Orte liegen alle in Sizilien!).

Allein diese wenigen Zahlen beleuchten hinreichend die unendlichen Schwierigkeiten, denen jede italienische Regierung gegenübersteht. Es gibt wohl kaum eine Unterlassung oder einen Fehler, deren Degasperi von seinen Gegnern aller Schattierungen nicht beschuldigt worden wäre; daß aber unter ebendieser Regierung zum ersten Male eine Untersuchung über das Elend ernstlich durchgeführt wurde, ist nur ein erneuter Beweis, daß dieser Staatsmann die Sprache der Tatsachen in keiner Weise zu fürchten brauchte. In diesen Spalten wurde bereits einmal auf die Errichtung von Industrien in Süditalien hingewiesen; natürlich war dies erst ein Anfang. Es steht aber außer Zweifel, sogar für einsichtige Gegner Degasperis, daß die letzte Regierung mehr für den Süden getan hatte als alle anderen Regierungen seit 1861. Vor Degasperi, gab es nur noch einen italienischen Staatsmann, der die Bekämpfung des Elends und die Hebung des Lebensstandards als Vorbedingung jeglicher „Großen Politik“ erkannte: Giovanni Giolitti. Gerade wegen der Armut des italienischen Volkes war Giolitti 1914/15 ein entschiedener Gegner des italienischen Kriegseintritts. Damals wurde Giolitti durch ein Bündnis freimaurerischer Großindustrieller und Generale, politischer Abenteurer (Mussolini), Nationalisten von rechts und antiklerikaler Interventionisten und Irredentisten von links (Cesare Battisti und Gaetano Salvimini) mattgesetzt. Nach dem Kriege konnte auch Giolitti das Resultat nicht mehr rückgängig machen, nämlich die totale Zerrüttung der italienischen Wirtschaft. Diese führte zum Faschismus und damit zum zweiten Weltkrieg, dessen sichtbarstes Resultat wohl die oben angeführten Zahlen sind. Wollen wir hoffen, daß sich die Geschichte nicht wiederhole und staatsmännische Einsicht wieder- vor den buntscheckigen Abenteurern weichen muß.

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