Der Mangel ist in Europa fast ausgestorben. Während der vergangenen Jahrzehnte ist er durch eine beispiellose Anstrengung aller Kräfte so erfolgreich bekämpft worden, dass er aus der Öffentlichkeit fast völlig verschwunden ist. Wohin der Blick heute geht, überall herrscht Überfluss.
Kürzlich erzählte mir eine Bekannte von den Kindern ihrer Schwester. Sie sind noch im Kindergarten und besuchen daneben eine Reihe anderer Einrichtungen und Vereine: musikalische Früherziehung, Turnen, verschiedene Sportarten usw. Überall gab es Anfang Dezember Nikolofeiern. Noch vor dem 6. Dezember hatten die Kinder fünf bis sechs Feiern hinter sich gebracht. Die Mutter war im Zweifel, ob nun zu Hause der Nikolaus ein siebtes Mal erscheinen sollte. Vielleicht wäre es besser, die Feier bleiben zu lassen? Was tun? Vielleicht Weihnachten überhaupt abschaffen, nachdem ohnedies nur lächerliche Kopien geblieben sind.
In der gegenwärtigen Gesellschaft gibt es an allem zu viel. Ist vielleicht das Bewusstsein für den Mangel wieder notwendig? Wenn es heute an etwas fehlt, dann sind es vor allem Originale. Das Original wird teuer bezahlt, vom Kunstwerk bis zur Mozartkugel. Inmitten eines Überflusses von Kopien ist das Original selten, ursprünglich, echt und dauerhaft. Auch Weihnachten wird auf vielfache Weise kopiert. Wo ist das Original?
Das Original-Weihnachten findet sich dort, wo der Blick dafür frei wird, dass die anderen Menschen geschenkte Zeit etwas entstehen lässt, das mich tiefer mit ihnen verbindet als jeder Überfluss an Dingen. Wo ich einen Sinn für die Möglichkeit entwickle, mich selber zu schenken, in kleinen Gesten und Aufmerksamkeiten. Und wo ich entdecke, dass ich gerade darin Gott näher bin als an allen Orten des Überflusses. Freilich hat auch dieses Original seinen Preis. Es kostet Zeit.
Der Autor ist Rektor der Jesuitenkirche in Wien
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