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Sturm im Wasserglas

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Oesterreich wird 1959 zur Urne schreiten. Wie immer wird auch dieses Wahljahr durch besondere Nervosität im politischen Leben des Landes gekennzeichnet sein. Denn jede Partei hat in solchen Zeitläuften einerseits Angst, Wähler zu verlieren, anderseits den Wunsch, nicht nur die alten Wähler zu behalten, sondern auch neue zu gewinnen. Jede Partei wird Wieder versuchen, ihre Konkurrenten in der Propaganda zu übertrumpfen. Indiskretionen werden in diesem Jahr noch mehr als sonst an der Tagesordnung sein.

Das kommende Wahljahr wirft aber schon jetzt in diesen letzten Wochen des Jahres 1958 s“eifl Sc-häften in die verschiedensten Bereiche des öffentlichen Lebens voraus. Auch die Nachricht über die Rückkehr des Chefs des Hauses Habsburg nach Oesterreich, die Ende vergangener Woche plötzlich die Gemüter erregte, muß unter dem Blickwinkel des kommenden Wahljahres betrachtet werden.

Eingeweihte wissen, daß sich das habsburgische Familienoberhaupt schon seit längerer Zeit mit dem Gedanken der Rückkehr nach Oesterreich beschäftigt. Nachdem Oesterreich es abgelehnt hatte, ähnlich nobel wie Frankreich, das ohne irgendwelche Bedingungen den Mitgliedern des Hauses Bourbon die Heimkehr nach Frankreich gestattete, das Haus Habsburg, dem Oesterreich so viel verdankt, zu behandeln, im Gegenteil (auf ausdrücklichen Wunsch der Sozialisten) die Habsburger-Gesetze auch in den Staatsvertrag aufgenommen wurden, bliebe dem Chef des Hauses Habsburg nichts anderes übrig,' wenn er in seine angestammte Heimat zurückkehren wollte, als sich in einer ausdrücklichen Erklärung zur Republik zu bekennen. In diesem Sinne hatte der Chef des Hauses Habsburg vor einiger Zeit an den Chef der österreichischen Bundesregierung geschrieben. Der Bundeskanzler hatte dem Innenminister von dem Briefwechsel Kenntnis gegeben. Durch eine Indiskretion von „linker Seite“ bekam die Oeffentlichkeit ungenaue Nachrichten über den Wunsch des habsburgi-schen Familienoberhauptes. Bundeskanzler Raab stellte in einer Rede zu Ende vergangener Woche die wahren Fakten dar.

Das ist alles.

Daraus aber wurde eine innerpolitische Sensation, die die Gemüter heftig erregte — dank der Nervosität, die das kommende Wahljahr bereits jetzt in Oesterreich hervorruft.

Als Kurzkommentar kann zu der ganzen An-' gelegenheit nur folgendes gesagt werden: Nachdem jahrelang erklärt wurde, daß der Chef des Hauses Habsburg jederzeit in seine Heimat zurückkehren könne, wenn er die geforderte Anerkennung der Republik Oesterreich ausspreche, ist es unbegreiflich, daß sich Menschen in Oesterreich jetzt darüber aufregen, daß ihre Forderung erfüllt wird. Es scheint fast, daß viele Angst haben, daß Oesterreich einen Staatsbürger in seinen Mauern haben wird, dessen Intelligenz und politische Klugheit in ganz Europa und in Amerika bekannt ist.

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