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Das Testament
Eugen de Witte war im Sudetenland eine bekannte politische Persönlichkeit: als Chefredakteur des sozialistischen Karlsbader „Volkswillens“ war er ein unbeugsamer Verfechter der Ideen seiner Partei. Aber er war ein ebenso konsequenter Gegner der Henlein-Bewegung, und 1938 ging er mit seinem Freund, den Abgeordneten Wenzel Jaksch, nach London ins Exil, wo er bald wieder als Redakteur der Emigrantenzeitschrift „Sozialdemokrat“ publizistisch tätig war. Vor kurzem nun starb dieser unermüdliche Kämpfer seiner Ueberzeugung. Schon vom Tode gezeichnet, schrieb er noch ein politisches Bekenntnis, das nach seinem Ableben seine Zeitschrift veröffentlichte:
„Wachttürme, Gräben, Befestigungen, Minenfelder und Stacheldrahtverhaue“, heißt es in diesem Testament, „auf mährischer, slowakischer und ungarischer Seite der Grenzen Oesterreichs von heute, das ist die Frucht der Zerstörung Oesterreich-Ungarns geworden. Das ist das Ergebnis des Irrsinnes von 1918, dessen weitere, noch ärgere Folgen ganz Europa, ja die ganze Welt, zu fürchten hat. Und die große Frage ist nur, ob man aus alledem nun doch endlich einmal wird lernen wollen; oder ob man stumpf genug sein sollte, sich von den Nachfolgern und Spießgesellen der Weltbürger von 1918 abermals hinters Licht führen zu lassen ... Würde es eine Art ,Nobel-Preis' für die denkbar schlechteste und mit tödlicher Sicherheit einen neuen Krieg herbeirufende .Lösung' europäischer Probleme gegeben haben, so hätte er den Ersinnern des .Friedens' von St. Germain und Trianon kaum strittig, gemacht werden können. Gewiß: Oesterreich-Ungarns Völker waren auch nicht aus eigener freier Willensentscheidung zu gemeinsamer Staatsbildung zusammengekommen; aber dieser Staat war ihnen allen doch eine Heimat geworden, und seine Umorganisierung, wie die Sozialdemokraten sie in ihrem Brünner Programm 1899 entworfen hatten, hätte wohl auch die nationalistischen Unruhestifter, die keinem seiner Völker mangelten, an die Wand gedrückt. Als Wirtschaftsgebiet war Oesterreich-Ungarn ein Staatsgebilde, das allen seinen Angehörigen eine Zukunftshoffnung ermöglichte, wie keiner der Nachfolgestaaten' sie seinen Bürgern zu bieten vermochte. Und von welcher Notwendigkeit die Erhaltung dieses Oesterreich-Ungarn als eines Verteidigers der westlichen Kultur gewesen wäre, das sehen heute wohl auch jene schon ein, die das vor einigen Jahrzehnten noch nicht begriffen. Wenn einmal die Völker Mitteleuropas und Südeuropas vor der Möglichkeit einer freien Entscheidung über ihre politische und wirtschaftliche Zukunft stehen werden, möchten wir nur wünschen, daß sie ihre Erfahrungen aus der Zeit vor und nach der Zerschlagung Oesterreich-Ungarns auch zu Rate ziehen würden.“
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