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Von Saint-Germain bis Wien

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Mein Oesterreich! Vaterland! Unser heiß geliebtes Vaterland! In dem Tedeum der Kathedralen, dem Chor der Glocken und den Gesängen des Volkes stieg unser Dank zum Himmel empor. In dem Rotweißrot ihrer Fahnen glühten die Freude und das Glück aller Städte und Dörfer auf. Nach schwerer Heimsuchung ist der Lohn für unser Volk gekommen, das in seiner Machtlosigkeit stark war und Sieger wurde durch seine Standhaftigkeit, seine Friedfertigkeit und seinen geraden, steilen Weg ging in Geduld.

Ein neues Zeitalter bricht für Oesterreich an. Mit neuen Aufgaben und Verpflichtungen. In ihm werden nicht Milch und Honig fließen. Das Goldene Zeitalter haben die Märchendichter erfunden. Wir aber sind über einen hohen Berg gekommen und wollen nun die fruchtbare Ebene bebauen, an deren Rain wir heute stehen. Und wir wissen, wie man, selbst zu Schwerem angefordert, zu bestehen vermag. Die Vergangenheit, die wir überwunden haben, ist eine gute und strenge Lehrmeisterin. Man muß ihr gehorchen. Immer hat es Bruch gegeben, wenn einer auf seine Zahl und seine Machtmittel pochen wollte. Und wir sind immer gut gefahren — und unsere Befreiungsfeier gibt Zeugnis dafür —, wenn wir, mit dem Blick auf das Gemeinwohl gerichtet, brüderlich uns die Hände gereicht haben, uns bewußt, daß jegliche Auseinandersetzung nach den unantastbaren sittlichen Grundsätzen jeder Gemeinschaft ausgerichtet werden muß. Wir begehen Freudentage von historischer Größe. Wir dürfen uns vorhalten, was wir dazu beitrugen, daß sie uns geschenkt Wurden.

Wir erfahren den ganzen Sinn des jetzigen Ereignisses, wenn wir uns auch nur die Präambel, des beseitigten ersten Textes des Staatsvertrages vorhalten, der von einem Oesterreich sprach, das „sich einer gewissen Verantwortlichkeit, die sich aus der Teilnahme am Kriege ergibt, nicht entziehen kann“. Wäre diese Anschuldigung aufrecht geblieben und hätten Wir durch die österreichischen Unterschriften auf dem Staatsvertrag diese Anschuldigung dokumentarisch verbriefen müssen, würde das österreichische Volk für unberechenbare Zeiten hinaus mit dem Bekenntnis einer schweren Schuld belastet gewesen sein, die es nie begangen hatte. Nochmals drohte ein Ungeist, der schon 1919 die europäische Politik mit Kettenreaktionen des Unrechtes durchwirkt und die bewegte Gründungsgeschichte der ersten österreichischen Republik bestimmt hatte, lebendig zu werden.

Der Friedensvertrag von Saint-Germain hatte aus Oesterreich, dem bisherigen Herzstück eines großen Reiches, einem Ordnungselement für Mittel- und Osteuropa, ohne dessen Bestand keine gesicherte Staatenbildung im Donauraum möglich gewesen wäre, ein schmächtiges, fast hilfloses Gebilde gemacht, das auch des bisherigen Zuganges zum Meere beraubt worden war. Der Gleichgewichtsfaktor in dem bunten Kräftegemenge des alten Reiches war entfernt. Auf dem verbliebenen Trümmerfelde hatte nun die mühselige Wanderung der österreichischen Republik zu beginnen.

Die 232 Vertrauensmänner der Deutschen Oesterreichs, die am 21. Oktober 1918 — die Mandate dieser früheren Mitglieder des österreichischen Reichsrates waren durch den Zeit-abläuf schon entgiltet — mit ihrer Proklamation vom Niederösterreichischen Landhaus aus als provisorische Nationalversammlung an das österreichische Volk die schmale Schwelle der Existenz eines neuen Oesterreichs zu zimmern gesucht und gehofft hätten, für den neuen Staat „Deutschösterreich“ alle deutschsprachigen Gebiete des alten Staates beanspruchen zu können und am 12. November glaubten, Deutschösterreich, verzagend an dessen staatlicher Lebenskraft, als „Bestandteil der deutschen Republik“ erklären zu können, sahen ein Jahr später die Schöpfung ihrer Träume in einem Akt der tiefsten Erniedrigung des österreichischen Volkes verschäumen. Der Friedensvertrag, der am 10. September 1919 in Saint-Germain der von Renner geführten österreichischen Delegation überreicht worden war, besaß unter den 381 Artikeln nicht einen einzigen, über dessen Inhalt die Vertreter Oesterreichs hatten mitsprechen können. Die österreichische Delegation war über ihre Rolle nicht im unklaren gelassen worden. Ihr Aufenthalt in Saint-Germain während der Friedensverhandlungen vollzog sich für sie in einer Einschließung, in die aus den Verhandlungsgesprächen der Großen kein Ton zu ihnen hereindrang. Um zu dem Sitzungssaale der Mächtevertreter zur Entgegennahme von Eröffnungen zu gelangen, hatten sie die Dienerstiege zu benützen, die für Dr. Benesch, den Vertreter der Tschechoslowakei in Saint-Germain, erspart blieb, weil er die Freitreppe benützen durfte.

Der Friedensvertrag hinterließ ein Zerstörungswerk, dessen Sinnlosigkeit später auch die Klugen seiner Autoren erkannten. Was Saint-Germain übrigließ, war ein Staat, der aus den meisten seiner natürlichen Lebensbedingungen gelöst war, überantwortet der Erniedrigung und Verdemütigung.

Nicht um alte Wunden aufzureißen, ist hier von dem bitteren österreichischen Erlebnis die Rede, sondern um daran zu erinnern, aus welch tiefempfundenem, fast erdrückendem De Pro-fundis die österreichische Seele mit Gottes Hilfe sich zu ihrem Lebensmut, zu ihrem Aufbauwillen am Staate und zu dem inbrünstigen Erfassen der Berufung dieses kleinen Landes in harten Jahren aufwärtsgekämpft hat. Ja, einer Berufung auf diesem kleinen Fleck Erde, der sich immer wieder als einer der großen Umschlagplätze der Weltgeschichte offenbart, dem europäischen und weiterwirkend dem Weltfrieden zu dienen.

Durch Jahrhunderte Pfeiler der europäischen Kultur und Rechtsordnung, eine Stätte der Wissenschaften und edlen Künste, ein gastliches Land, aufgeschlossen der Pflege der sozialen Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, pflanzt Oesterreich seine Fahne auL

Sie grüßt alle, die eines guten Willens sind!

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