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„Aufrührer“ im Pfarrlokal

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Vor dem Madrider Gericht für öffentliche Ordnung ging ein Prozeß gegen fünf Führer der auf Parteiunabhängigkeit Anspruch erhebenden „Arbeiterkommissionen“ über die Bühne, der als einer der spektakulärsten der letzten Zeit gewertet werden kann. Diese Wertung verdient er zum einen wegen der ungefähr 2500 Personen, die versuchten, Einlaß in den maximal 800 Personen fassenden Gerichtssaal zu erhalten und zu diesem Zweck stundenlang Schlange vor dem Gerichtsgebäude standen, zum anderen wegen des ungeheuren Polizeiapparats, der in Erwartung von Sympathiemanifestationen oder sonstigen „Unordnungen“ aufgeboten worden war.

Interessierte Beobachter

Unter dem Publikum befanden sich hauptsächlich Arbeiter, Studenten und Geistliche sowie sieben ausländische Gewerkschafter, die als Beobachter gekommen waren; handelte es sich doch bei diesem Prozeß um die Klärung der in Spanien brennenden Frage, ob sich die Arbeiter in ihren Forderungen und Bestre bungen auf die Sozialenzykliken der katholischen Kirche mit allen daraus erfolgenden rechtlichen Postulaten stützen können oder ob die im Gesetz über öffentliche Ordnung zusammengefaßten Paragraphen in Spanien mehr Gewicht besitzen. Darüber hinaus wurde die Einstellung der spanischen Einheitsgewerkschaft, in der Arbeitnehmer und Unternehmer zwangsweise zusammengefaßt sind, gegenüber den Arbeitern grell beleuchtet.

Den fünf Angeklagten — darunter ein Metallarbeiter mit Hochschulbildung — wurde vom Staatsanwalt die Beteiligung an einer nicht erlaubten Versammlung im April des vergangenen Jahres vorgeworfen. Er forderte für dieses Vergehen die für spanische Verhältnisse gelinde Strafe von vier Monaten Haft.

Diese nicht erlaubte Versammlung fand in einem Saal des Patronats Johannes XXIII. im Madrider Arbeitervorort Orcasitas mit der Genehmigung des aus Deutschland stammenden Paters und Präsidenten des Patronats, Paul Bausmann, statt, der, wie er vor Gericht als Zeuge aus sagte, über das Ziel der Versammlung informiert war.

Dieses Ziel bestand hauptsächlich in der Diskussion eines von den Arbeitern — Angehörigen der „Arbeiterkommissionen“ — ausgearbeiteten Gesetzentwurfes zum spanischen Gewerkschaftsgesetz, das laut der neuen spanischen Verfassung neu entstehen soll und zu dem, wie Gewerkschaftsgeneralsekretär Josė Solis Ruiz öffentlich betonte, die Arbeiter konsultiert werden sollen. Teilnehmer der Versammlung waren ungefähr 600 von dien Arbeitern frei gewählte Gewerkschafter, die, wie die Angeklagten und deren Anwälte vor Gericht betonten, angesichts der systematischen Weigerung des Einheitssyndikats — dem sie angehörten — ihnen gewerkschaftseigene Räume zur Verfügung zu stellen, sich selbst um die Beschaffung geeigneter Versammlungslokale kümmern müssen. Sie waren in anderen Pfarräumlichkeiten in Madrid bereits mehrmals zusammengetreten, ohne daß die Polizei eingeschritten oder deswegen Anklage gegen sie erhoben worden wäre. DerGeistliche von Orcasitas sah die Versammlung daher als durchaus legal an und war darüber hinaus der Ansicht, daß die Arbeiter Forderungen stellten, die in den Sozialenzykliken vertreten werden.

Geistlicher und Arbeiter bestraft

Die spanischen Behörden scheinen jedoch nicht diese Meinung zu teilen: Der Geistliche wurde bereits die-

ser Versammlung wegen von der Madrider Direktion für Sicherheitswesen mit 25.000 Peseten bestraft. Und die Arbeiter, die sich an die Kirche wandten, weil, wie der Angeklagte Ariza sagte, „die Lokale des Syndikats für die Arbeiterklasse geschlossen sind“, müssen ihre Bestrebungen nach Änderung der vertikalen Struktur des staatlichen Ein- hedtssyndakats, nach freien Gewerk-

schaften, Streikrecht und sozialer Gerechtigkeit europäisch-demokratischen Stils mit einer viermonatigen Haftstrafe büßen, nur weil sie keine polizeiliche Genehmigung für eine Versammlung in einem Pfarrlokal einholten, das ohnehin auf Grund des zwischen dem Heiligen Stuhl und Spanien bestehenden Konkordats von der Gesetzgebung für öffentliche Ordnung ausgenommen ist.

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