Polen - © Foto: Pixabay

Polen: Regieren gegen den eigenen Staat

19451960198020002020

Wandelstimmung in Warschau. Gleichzeitig zieht sich der Machtwechsel nach der Parlamentswahl in die Länge. Einem neuen Kabinett unter dem liberalkonservativen Donald Tusk dürften vor allem Präsident Andrzej Duda und die Gerichte Steine in den Weg legen.

19451960198020002020

Wandelstimmung in Warschau. Gleichzeitig zieht sich der Machtwechsel nach der Parlamentswahl in die Länge. Einem neuen Kabinett unter dem liberalkonservativen Donald Tusk dürften vor allem Präsident Andrzej Duda und die Gerichte Steine in den Weg legen.

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist ein Ton, an den sich viele Polen erst noch gewöhnen müssen: Gewitzt und schlagfertig erklärt Szymon Hołownia, der am 13. November zum Sejm-Marschall gewählt wurde, dem Vorsitzenden des Unterhauses des polnischen Parlaments: „Ich will, dass die Qualität der Debatte im Sejm sich verbessert, dass im Sejm wieder Recht und Ordnung herrschen.“

Dem Sejm-Marschall kommt nicht nur die Rolle zu, Parlamentsdebatten zu moderieren, er ist auch nach dem Präsidenten der zweite Mann im Staat. Und der 47-jährige Hołownia will diesem großen Amt seine Würde wiedergeben – nachdem es die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) über acht Jahre hinweg missbrauchte. Nicht nur um die Opposition rhetorisch kleinzuhalten, sondern auch um mithilfe verschiedener Tricks, etwa mittels nachts teils überraschend einberufener Sitzungen, die Parlamentsarbeit im Sinn der Partei zu steuern. Zwar dürfte das rechtlich meist zulässig gewesen sein, für viele Beobachter aber hat dadurch die Parlamentskultur Schaden genommen.

Zäune gegen Bürgerproteste

Hołownia, Vorsitzender der Partei Polska 2050, ein Partner des Wahlbündnisses Bürgerkoalition (KO) des designierten Premierministers Donald Tusk, hat nach seiner Wahl im Sejm sogleich beschlossen, die Absperrungen vor dem Parlamentsgebäude entfernen zu lassen. Es ist ein symbolischer Schritt. Die Metallzäune wurden erstmals 2019 gegen Bürgerproteste gegen die Regierungspolitik aufgestellt. Polnische Kommentatoren begrüßten die Entscheidung des neuen Sejm-Marschalls, so wie seit Tagen sein Stil gelobt wird. Hołownia ist ein ehemaliger TV-Moderator, öffentliche Auftritte absolviert er gekonnt.

Mit der Personalie Hołownia ist dieser Tage tatsächlich ein politischer Wandel in Warschau spürbar. Doch Euphorie will sich bei den Wahlsiegern vom 15. Oktober nicht breitmachen. Viele von ihnen sind in Sorge, dass die Wahl Hołownias auf absehbare Zeit ihr einziger vorzeigbarer Erfolg bleiben könnte. Denn das Dreierbündnis von Bürgerkoalition, Dritter Weg, dem Zusammenschluss der Bauernpartei (PSL) und Hołownias Polska 2050, und der polnischen Linken kann seit der Auszählung aller Stimmen am 17. Oktober zwar darauf verweisen, 248 Sitze im Sejm gewonnen zu haben – es ist eine eigentlich komfortable Mehrheit im 460 Sitze zählenden Parlament. Doch es ist seitdem immer noch zu keinem Regierungswechsel gekommen, und Präsident Andrzej Duda scheint gewillt zu sein, diesen durch das Ausreizen sämtlicher Fristen so weit wie möglich zu verzögern.

Dass Hołownia erst Mitte November zum Sejm-Marschall gewählt wurde, liegt daran, dass Duda das Parlament erst kurz vor dem Ende der dreißig Tage zählenden Frist einberufen hat. Üblicherweise kommt ein neuer Sejm bereits wenige Tage nach einer Parlamentswahl zusammen. Darüber hinaus hat der Präsident dem amtierenden Premierminister Mateusz Morawiecki den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt: nicht einem Vertreter der Parlamentsmehrheit, sondern einem der größten Partei (die PiS allein ist immer noch die stärkste Kraft im Sejm, eine Mehrheit hat sie aber nicht). Morawieckis Mission ist zum Scheitern verurteilt. Ein Regierungswechsel wird so weiter verzögert. Er dürfte frühestens Mitte Dezember zustande kommen, vielleicht auch erst im Jänner 2024.

Das Ziel: Eine Blockadepolitik

Das Ziel Andrzej Dudas, so wird gemunkelt, ist es, bei den Polen den Eindruck zu wecken, dass das Regieren ohne die PiS schlicht unmöglich ist. Wenn er oder die Gerichte zu einem späteren Zeitpunkt eine Blockadepolitik fahren, könnte es nach dieser Logik im nächsten Jahr zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Ein weiterer Grund für die Verzögerungspolitik Dudas könnte seine Konkurrenz zu Morawiecki sein. 2025 wird Duda zehn Jahre im Amt gewesen sein. Er darf laut polnischer Verfassung nicht noch einmal antreten. Dem erst 51-Jährigen stellt sich die Frage, welche Rolle er dann in der polnischen Politik spielen will. Es gibt Gerüchte, dass Duda eine Führerschaft der polnischen Rechten anstrebt. Der mächtige Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, ist 73 Jahre alt und hat bereits im vergangenen Jahr angekündigt, bei einem Parteikongress 2025 kein weiteres Mal zu kandidieren. Indem Duda Morawiecki jetzt mit der aussichtslosen Aufgabe einer Regierungsbildung beauftragt, fügt er ihm einen frühen Schlag im möglichen Rennen um den Parteivorsitz zu.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung