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Das Recht der Kritik

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• Die Opposition vollzieht sich in erster Linie in Form einer Kritik der Regierungsmaßnahmen. Die Kritik der Opposition ist oft unbefangen und nicht durch Bedingungen (Budget, Rücksichtnahme auf das Ausland) diszipliniert wie etwa das Handeln der Regierung. Dazu kommt, daß die oppositionellen Kritiker meist wissen, daß sie ihr Postulat nicht selbst ausführen müssen. Die nicht seltene Folge ist eine Forderungslizitation unter den Op-positionsgrüppen.

Die Ausübung von Kritik aber ist eine'Elementarfunktiöh der Opposition. Wer ihr grundsätzlich das Recht der Kritik abspricht, leugnet die demokratische Ordnung und versteht die pluralistische Gesellschaft nur als eine durch demokratische Formeln verdeckte Autokratie oder Oligarchie.

• Die zweite Form des Vollzuges der Opposition ist der Versuch einer Korrektur der Maßnahmen der Regierung. Die Regierung kann sich bei einer starken Opposition, die es vermag, sich die sogenannte öffentliche Meinung dienstbar zu machen, nicht selbst das Maß für ihre Maßnahmen setzen, sondern muß darauf Bedacht nehmen, daß ab einer kritischen Unpopularitätslinie ihres Verhaltens die Opposition sich der ohnedies gegenüber jeder Regierung latenten Opposition der Bevölkerungsmehrheit bedienen kann. Die Idee, in Österreich einem Angehörigen einer nicht in der Regierung vertretenen Partei die Führung des Rechnungshofes anzuvertrauen, ist an sich — wenn wir von allen Vorgängen um die Wahl des Rechnungshofpräsidenten absehen — eine Korrekturmaßnahme, die der englischen politischen Konstitution entspricht und der Opposition eine Amtsfunktion verleiht, die einer notwendigen Widerstandsmacht gleichzusetzen ist.

• Die dritte Funktion der Opposition ist die Repräsentation der Interessen der Gesellschaft gegenüber einer Regierung, deren bürokratisch organisierte Organe geradezu naturgesetzlich zur Autonomisierung neigen, eine Funktion, die einmal in Rom die Volkstribunen ausübten und im Mittelalter die Kirche gegenüber den Herrschern. Erst wenn und soweit die Kirche selbst herrscherliche Funktionen in der Welt ausübte, wurde sie gesellschaftlich funktionslos.

Im englischen Zweiparteiensystem (nicht zu verwechseln mit einem Zweiparteienregime) ist die Chance der Machtablöse prinzipiell vorgesehen, weshalb selten Regierungskoalitionen gebildet werden. Die jeweilige Opposition ist in Großbritannien eine quasi hoheitliche Institution; sie ist potentielle Regierungspartei von morgen und wird als eine Art Juniorpartner behandelt, der wohl informiert, aber nicht an die „Kassa“ herangelassen wird. Der Führer der Opposition wird als eine Art Amtsträger honoriert. Regierung und Opposition sind dadurch auf Grund ihrer deklarierten gemeinsamen Verantwortung für den Staat ein Ganzes. Auch eine noch so starke oppositionelle Tätigkeit kann zu keiner Desintegration des politischen Lebens führen.

Wie sieht es nun mit der politischen Opposition in Österreich aus? Zunächst durfte die Zweite Republik nach 1945 formell nur oppositionslos regiert werden. Oppositionsgruppen erhielten, weil des Faschismus verdächtig, anfänglich keine politische Lizenz, wozu noch kam, daß in den ersten Jahren Opposition auch als Widerstand gegen eine der Besatzungsmächte klassifiziert wurde. Aus der Tatsache, daß anfänglich eine Opposition nicht legitim war, entstand einerseits bei den Regierenden die auch heute noch nicht beseitigte Annahme, daß jede Opposition illegitim sei, und anderseits die Meinung, eine Opposition habe nur dagegen zu sein, sei sie doch ohne gesetzlichen Standort und nur geduldet. Als später in zum Teil noch immer geheimnisvollen Vorgängen eine legitime Opposition konstituiert wurde — in einem Einteilungsnotstand klassifiziert sie sich als „liberal“ —, erhielt sie vorweg lediglich einen instrumentalen Charakter im Rahmen der Auseinandersetzungen der Regierungsparteien; sie „durfte“ Opposition sein, um das politische Gleichgewicht abzusichern. Wenn es in Österreich seit 1949 den Eins-zu-eins-Proporz gibt, dann deswegen, weil jede versuchte Änderung der fixierten Relation in der Machtverteilung mit der Drohung des jeweils Bedrohten, sich die Dienste der Opposition zu erwerben, beantwortet wurde.

Die gegenwärtige politische Situation in Österreich ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß eine aufgestaute Opposition vorhanden ist, in den Parteien selbst, aber vor allem jenseits der Parteien.

In jeder reifen Gesellschaft besteht eine natürliche Neigung zur Opposition, auch zu einer solchen, die unbegründete Kritik nur um dieser selbst willen übt und oft lediglich dokumentiert, daß es Menschen gibt, die anders sein wollen als die anderen.

Die Koalition der beiden Großparteien dauert an die zwanzig Jahre und daher vielen zu lange; man geht in der Bevölkerung davon aus, daß sich die Regierung seit 1945 substantiell eigentlich nicht mehr geändert hat. Dankbarkeit für diese einzigartige und per Saldo überaus nützliche politische Stabilität darf von den Regierungsparteien nicht in ihre Dispositionen einkalkuliert werden. Was die Koalition ist, wird erst erkannt werden, wenn sie einmal Geschichte geworden ist.

Die Parteien der Gegenwart, was immer sie tun und proklamieren, scheinen vielen, die parteipolitisch nicht engagiert sind, nicht attraktiv zu sein. Es gibt zu wenig parteipolitische Marken, um den Bedarf, der eine größere Variabilität des Anbotes begehrt, qualitativ angemessen zu decken. Daher besteht ein ungedeckter Bedarfsüberhang an politischen Gruppen. Würden die Parteien etwa der Bildung von kritisch gesinnten, wenn auch nicht dem Grunde nach oppositionellen Gruppen in ihren Reihen zustimmen, die, wie die politischen Klubs in Frankreich, eine gewisse Selbständigkeit haben, oder ihre Errichtung nicht vorweg mißbilligen, wäre für viele, vor allem für die Intellektuellen, der „Bedarf“ gedeckt.

Die beiden vorhandenen und zum Teil auch in Landesregierungen oder anderen Vertretungskörpern aufscheinenden Oppositionsparteien stellen wegen ihrer formellen politischen Eindeutigkeit nur für einen Teil der „ungesättigten“ Opposition eine attraktive Marke dar. Die Attraktionskraft der FPÖ als Oppositionspartei hat bei manchen etwas abgenommen, seit sie den Kontrollor öffentlichen Eigentums stellt und von beiden Regierungsparteien als mitregierungsfähig erklärt wurde. Eine Partei, die ohnedies bereits indirekt mitregiert, kann die „(Nachfrage“ mancher Oppositioneller ja wahrscheinlich nicht mehr befriedigen.

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