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Der Doppelgänger

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Ich habe eine eigentündiche Scheu, ihn anzusprechen. Dabei brenne ich darauf, sein Alter, seinen Beruf, seinen Namen und vielleicht auch etwas von seinen Vorfahren zu erfahren, die seine frappante Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Herausgeber, Chefredakteur und Genius loci des in diesen Tagen jubilierenden Herold- Hauses, Dr. Friedrich Funder, erklären könnten.

Zwar: Wenn einem der Doppelgänger in der Strozzigasse entgegenkommt, will es scheinen, daß seine Gestalt größer, gedrungener und sein Gang rascher, sicherer und bewußter als der gelassene, bedachtsame, suchende des späten Dr. Funder ist. Erschütternd aber ist es. wenn er am Sonntag in der Spätmesse der Piaristenkirche ein paar Meter von mir entfernt auf der rechten Seite der Kirchenbänke sitzt, tief versunken, gesammelter und andächtiger als ich, der ich immer wieder hinschauen muß.

Man muß wissen, daß Dr. Funder mit der Wiener Pfarre der Piaristen, Maria-Treu, deren schwelgeriscnen barocken Kirchendekor er besser kannte als der Kunstführer Dehio, und mit ihren jeweiligen Pfarrherren jahrzehntelang besonders eng verbunden gewesen ist, tausendmal mit seiner Frau Marianne vom Herold-Haus durch die Strozzigasse und Lederergasse zur Kirche gegangen ist und an einem trüben Frühsommertag des Jahres 1959 von dieser

Kirche aus den Weg zur letzten Ruhe angetreten hat.

Sitzt „er“ also, wie es früher öfter der Fall gewesen ist, in der Kirche in meiner Nähe, so ist die Täuschung vollkommen: das gleiche silbergraue Haar, der gleichfarbene gepflegte Backenbart, der Charakterkopf, dessen ein Jahrhundert lang geprägte Rasse nach dem ersten Weltkrieg auszusterben begann und heute nur mehr eine Erinnerung ist.

Es ist nicht das Unheimliche der Ballade vom Doppelgänger Heinrich Heines an ihm. Er ist mir im Gegenteil vertraut, heimelig, als ob wir uns schon jahrzehntelang kennten. Und wie er den Kopf ein wenig zur Seite wendet, da — da muß er das Geliebte, Gefürchtete sagen: „Jetzt nuuhn, du hast da einen prachtvollen Artikel geschrieben. Ich habe nur den Anfang ein wenig verändert, den Schluß konzentriert, in der Mitte habe ich nicht viel Mühe gehabt..

Ich träume, ich träume. Der Doppelgänger schweigt, und der Kopf ist wieder in tiefe Nachdenklichkeit und Andacht versunken.

Trotzdem geht ein guter Trost von der Begegnung aus. Die ganze lange Woche meine ich, daß mir bei eigenen und fremden Manskripten einer über die Schulter schaut und Anfang, Mitte und Schluß „leicht verändern“ hilft.

Das aber ist nicht sein Doppelgänger. Ich weiß es ganz bestimmt: Das ist er selber.

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