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Der Held mit dem dummen Gesicht

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Nichts in der Literatur scheint so rätselhaft zu sein wie der Kriminalroman, und das nicht nur, weil Detektiv und Leser ein Rätsel lösen müssen. Genauso gerätselt wird, mehr oder minder gescheit, auch darüber, was denn das überhaupt sei, ein Kriminalroman, und wodurch er gut oder schlecht sei. Raymond Chandler gibt uns die einfachste Antwort: Ein Kriminalroman ist ein Roman, also die erzählerische Verflechtung menschlicher Schicksale, und ein guter Kriminalroman ist ein gut geschriebener Roman.

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Nichts in der Literatur scheint so rätselhaft zu sein wie der Kriminalroman, und das nicht nur, weil Detektiv und Leser ein Rätsel lösen müssen. Genauso gerätselt wird, mehr oder minder gescheit, auch darüber, was denn das überhaupt sei, ein Kriminalroman, und wodurch er gut oder schlecht sei. Raymond Chandler gibt uns die einfachste Antwort: Ein Kriminalroman ist ein Roman, also die erzählerische Verflechtung menschlicher Schicksale, und ein guter Kriminalroman ist ein gut geschriebener Roman.

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Ach ja: Im Kriminalroman kommen üblicherweise einige Leichen vor, aber nur deshalb würden wir gerade Chandler nicht lesen. Warum aber lesen wir ihn? Wir lesen Chandler, weil seine Romane und Novellen hinreißend gut geschrieben sind. Die Milieus und die Menschen stehen vor uns, da Chandler stets das Wesentliche erkennt und es durch Übertreibung verdeutlicht; da er, auf höchst persönliche Weise, dasjenige Verfahren anwendet, weiches Stil erzeugt, und Stil ist nun eben das Kriterium von Literatur: „Das Dauerhafteste an der ganzen Schriftstellerei (ist) der Stil, und der Stil ist das Wertvollste, in das ein Schriftsteller seine Zeit investieren kann.”

Er belästigt uns nicht mit Ideen, schon gar nicht mit solchen von „gesellschaftspolitischer Relevanz”, denn: „Ideen sind Gift”. Er schreibt „für die Leute, die unter Schreiben eine Kunst verstehen und in der Lage sind, das, was ein Mann mit Worten und Gedanken macht, von dem zu trennen, was er über Truman oder die Vereinten Nationen denkt”. Das Ver- brechep - genauer: die Art von Verbrechen, die da der Gegenstand der Handlung sind - ist halt nun einmal der Preis der Freiheit. Basta.

Basta allerdings nicht für Philip Marlowe, den seltsamen Helden der Romane (und dessen diverse Vorläufer in den frühen Stories). Der will integer bleiben in dieser durch und durch korrupten Welt, in der er sich berufsbedingt, nämlich als Privatdetektiv, bewegt; und mehr noch: Er will ein wenig so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit spielen, obwohl er weiß: „Das weiße Licht des Monds war kalt und klar wie die Gerechtigkeit, von der wir träumen und die wir nicht finden.” Ein desillusionierter Don Quijote, von dem dessen Schöpfer sagt: „Wichtig waren mir die Menschen, war mir die seltsam korrupte Welt, in der wir leben, und wie ein Mann, der ehrlich zu sein versucht darin, am Ende mit sentimentalem oder einfach dummem Gesicht dasteht.”

Denn die Schuldigen sind nicht bloß schuldig, sondern auch unglücklich, wie auch der Sieger nicht unbedingt glücklich ist über seinen Sieg - wie etwa Delaguerra in der Novelle „Spanisches Blut” (dem Besten von Chandler). Polizeichef Marr ist erschossen worden; Delaguerra findet heraus, daß Marrs Frau es getan hat, in die auch er einmal verliebt gewesen ist, ehe sie sich dann für Marr entschied, und sie alle drei waren gute Freunde geblieben; und überdies findet er auch heraus, daß der sterbende Marr die Spuren verwischt, den Verdacht von seiner Frau, der Mörderin, abgelenkt hat. Er sagt ihr das; sagt ihr auch, daß er schweigen wird; daß auch sie im Sinne des Toten handeln, also schweigen solle. Für diese Szene gebe ich sämtliche Romane von Hemingway.

SÄMTLICHE ROMANE UND MEHR IN NEUN BÄNDEN (Kassette) von Raymond Chandler, übersetzt von H. Karasek, G. Ortlepp, W. E. Richartz, W. Teichmann, U. Widmer, H. Wollschläger. Diogenes-Verlag, Zürich, 2768 Seiten, öS 454,30.

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