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Mathematik des Grauens

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JEDE LITERATURGATTUNG vermag stolz auf einen sogenannten Ahnherrn hinzuweisen, den sie entweder als ihren Entdecker überhaupt oder doch als den Mann feiert, dem sie nicht nur erste Anregungen, sondern auch ihre „Salonfähigkeit“ verdankt. Im Falle des Kriminalromans freilich, dieses heute noch schwer zu definierenden, rätselhaft schillernden Gebildes aus Schein und Sein, ergeben sich verblüffende Resultate; er begann gewissermaßen als hohe Literatur, erreichte schwindelnde Höhen und — verschwand im Nichts, das heißt, er erlebte seine zögernde Wiedergeburt zu einer Zeit, als man ihn offiziell bereits längst abgeschrieben hatte. Er wird, zumindest in Mitteleuropa, noch lange damit zu tun haben, gegen eine Unmenge von Vorurteilen anzukämpfen, sich also, bildlich gesprochen, der Wunden annehmen müssen, die ihm Edgar Wallace seinerzeit geschlagen hat.

Dabei schien von Anfang an gerade die Detektivgeschichte unter einem besonders günstigen Stern zu stehen, denn ihrem Begründer, Edgar Allen Poe, dessen „Doppelmord in der Rue Morgue“ ein erster Meilenstein in diesem Genre war, wird man fraglos etwas bescheinigen müssen: daß er nämlich in einem ganz bestimmten Sinne das Zeitalter des Denkens eingeleitet hat. Ich meine damit nicht das Denken schlechthin, * denn das wäre ja eine absurde Schlußfolgerung, sondern jene Art eines praktisch angewandten Intellektualismus, die es bis zu seinem Erscheinen nicht gegeben hatte und die durch ihn ein so exaktes Fundament erhalten hat, daß beispielsweise Paul Valery lediglich die geistigen Wunschträume Poes in die literarische Wirklichkeit umzusetzen brauchte. Anderseits aber beschränkte sich Poe nicht nur auf „Wunschträume“. Bei aller Experimentierfreudigkeit, die sein Werk auszeichnete, besaß er doch den scharfen Blick fürs Wesentliche, etwas, das den Kriminalroman dort, wo er sich der ernsthaften Literatur nähert, immer auszeichnen wird. Als Muster-Poes' nennen: „Wassergrube ^uSP Pendel“, „Malstrom“ oder die Geschichte vom „Goldkäfer“. So betrachtet also, braucht sich der Kriminalroman seiner Herkunft durchaus nicht zu schämen, ja er stellt sogar in seinen besten Hervorbringungen an Schreibende wie Lesende höchste Anforderungen, denen gerecht zu werden nicht unbedingt und nicht immer eine Sache des bloßen Amüsements ist.

Nun hat aber nach Edgar Allen Poe eine Entwicklung eingesetzt, die durch lange Zeit weitab von dem führte, was bei Poe noch echter „Anlaß“ und daher Literatur gewesen ist. Das Bild, das man sich vom Kriminalroman und der Detektivgeschichte machte, veränderte sich, es wurde in einer ganz bestimmten Weise verlogen. Was bei Edgar Allen Poe durchaus noch repräsentabel gewesen war, wurde bei seinen Nachfolgern bestenfalls Durchschnittsware. Der logische Denkprozeß verblaßte zur willkürlichen Schlußfolgerung, das erschütternde und für die Entwicklung einer Crime-Story manchmal notwendige Grauen wurde durch das fade Gruseln ersetzt und, was wohl die größte Sünde genannt werden muß, der Leser wurde von der „Mitarbeit“, vom Mitdenken, Mitexperimentieren vollständig ausgeschlossen. Der Kriminalroman wurde in seiner Art zu dem, was um die Jahrhundertwende mit Marlitt und Courths-Mahler die versagenden Denkapparate eingeschläfert hat. Kurzum, man gewöhnte sich daran, ihn quasi über die Schulter anzusehen, so man ihn überhaupt noch eines Blickes würdigte. Als traurige und auch beschämende Überreste dieses Zustandes möchte ich auf die heute noch erscheinenden „Heftserien“ hinweisen, die nicht nur in einem völlig unzulänglichen und von haarsträubenden Fehlern durchsetzten Deutsch geschrieben werden, sondern die außerdem eine nahezu grenzenlose Naivität des Lesers voraussetzen.

Aber dessenungeachtet gelang es dem Kriminalroman, wenn schon nicht an seine glorreiche Vergangenheit anzuknüpfen, so doch beträchtlich an Boden zu gewinnen. Es gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten des literarischen Betriebes, ihm in den Feuilletonspalten der großen Zeitungen Aufmerksamkeit zu zollen, und vor allem in den angelsächsischen Ländern zählt er seit längerem schon als ein Begriff, mit dem sich auch die ernsthafte Literaturkritik gewissenhaft beschäftigt.

Ich möchte nun rein topographisch den modernen Kriminalroman in drei Gruppen einteilen und gleichzeitig die charakteristischen Merkmale bezeichnen, mit denen sich jede dieser drei Gruppen zumindest in mancher Beziehung voneinander unterscheidet.

DER AMERIKANISCHE KRIMINALROMAN: Obgleich Edgar Allen Poe Amerikaner war, wenngleich mit deutschen Ahnen, so ist sein Einfluß gerade in der amerikanischen Literatur gering geblieben, abgesehen von der Short-Story, die ich hierbei bewußt ausgeklammert habe. Von einer anlaytischen Schärfe des Intellekts jedenfalls ist im Kriminalroman „made in USA“ wenig zu spüren. Man verzichtet darauf zugunsten des „mathematischen Blicks fürs Entsetzliche“ und mehr noch fürs Wesentliche, Dokumentarische. Die Crime-Story hält sich an facts, an Tatsachen, sie versucht eine genaue Schilderung, ja mitunter sogar eine Analyse des „American way of life“ zu geben, sie verfolgt ihre Figuren nicht nur in den Gerichtssaal oder auf den elektrischen Stuhl, sondern auch in die Cafeterias, Drugstores, Bars, Untergrundbahnen, Motels, in die öden Vertreterhotels und Freiluftkinos. Der große Vorteil des amerikanischen Kriminalromans, seine große Chance ist, daß er sein Geschehen immer vor einem genau um-rissenen Hintergrund abrollen läßt; er entwächst nirgends leichtsinnig seinem „Humus“ oder, besser gesagt: er begnügt sich nicht damit, irgendeine erfundene Geschichte in irgendeiner erfundenen Umwelt abspielen zu lassen. Bemerkenswert ist auch die stets von neuem aufgerollte, erbitterte Rivalität zwischen freiem Privatdetektiv und gewählter Polizei oder freiem Verteidiger und von seinen Wählern bestätigten Staatsanwalt; oder auch die Hinweise auf die Tatsache, daß die amerikanische Gerichtsbarkeit im weitesten Sinne abhängig ist von der öffentlichen Meinung; man ist manchmal beinahe versucht, anzunehmen, daß in jedem guten amerikanischen Kriminalroman ein Stück versteckter soziologischer Untersuchung mit dabei ist; als hervorragendes Beispiel möchte ich Richard Jessups „Jane „.Morgan . schweigt“ nennen. ~ ~

Natürlich werden alle diese Crime-Storys “n einer bewußt salopp gehaltenen Sprache vorgetragen; in ihren besten Beispielen jedoch erreichen sie eine beachtliche Qualität. Ich verweise hier auf Autoren, wie Raymond Chandler, J. M. Cain, Erle St. Gardner und Dashiell Hamme, über den Andre Gide in seinem Tagebuch notierte: „In der .Bluternte' könnten die mit Meisterhand geführten Dialoge Hemingway oder gar Faulkner als Beispiel dienen, und die ganze Erzählung wird mit einer Geschicklichkeit und einem unerbittlichen Zynismus zu Ende geführt, daß es wohl das Bemerkenswerteste ist, was ich in diesem Genre gelesen habe.“

WENN MAN VOM ENGLISCHEN KRIMINALROMAN spricht, sollte man sich sogleich in einer Hinsicht korrigieren: hier dominiert die Detektivgeschichte. Den Unterschied zwischen Kriminalroman und Detektivgeschichte möchte ich damit erklären, daß im Kriminalroman der Ablauf eines Verbrechens geschildert wird (Beispiel: S. W. Taylor: „Der Mann mit meinem Gesicht“); während in der Detektivgeschichte ein Detektiv, gleichviel ob von der Polizei oder von privater Seite, ein bereits vergangenes Verbrechen . aufklärt (Beispiel: die Romane der Agathe Christie und die von Thomas Muir). In England nun liefert das schon legendäre Scotland-Yard-Institut immer neue Möglichkeiten, die Form der Detektiv-gesohichte variabel zu halten. Doch sind auch in der englischen „mystery“ gewisse Parallelen zur amerikanischen Crime-Story bemerkbar, so öwa,jn,j3 „WohI imd.exakten Darstellung.„des,genaues, bis in nebensächliche Einzelheiten gehendes Bild vom englischen Leben liefert. Dafür, unterscheidet sich die englische Detektivgeschichte von ihrem amerikanischen Pendant grundsätzlich dadurch, daß sie es sorgfältig vermeidet, jenen zynischen Stil zu verwenden, der sich vor allem in der Schilderung von Brutalitäten und Obszönitäten bewährt. So kommt es dazu, daß man etwa bei der Lektüre einer Agathe Christie angenehm überrascht wird vom gepflegten Stil und der sorgfältigen Ausarbeitung der Story, ohne daß freilich Edgar Allen Poes Theorien hier in die Wirklichkeit umgesetzt erscheinen; dennoch ermöglicht die Mehrzahl der englischen Kriminalromanautoren dem Leser eine Mitarbeit im idealen Sinne, indem sie ihn an Hand von klug erdachten Vorwürfen, ich möchte sie gedankliche Reizmittel nennen, dazu ermuntern, eigene Schlüsse zu ziehen; ein leider etwas selten gewordener Vorzug des modernen Kriminalromans.

DEN FRANZÖSISCHEN KRIMINALROMAN gibt es an und für sich gar nicht, da er insgesamt von seinem durchweg amerikanischen Vorbild abhängig erscheint und dieses noch zu übertreffen versucht, wo es um die breite Darstellung von Sadismen und erotischen Konflikten geht, was naturgemäß nur allzu leicht in die Niederungen der absoluten Geschmacklosigkeit führt. Da jedoch Frankreich auf einen so gewichtigen Namen wie Georges Simenon hinweisen kann, sei es noch als,Abschluß dieser Gliederung genannt. Tatsächlich aber meint man

Hier jedoch nähern wir uns bereits jener unscharfen Trennungslinie, die den Roman im literarischen Sinne vom Kriminalroman unterscheiden oder wenigstens bisher unterschieden hat. Denn ähnlich wie seinem nicht minder berühmten (englischen) Kollegen Graham Greene geht es auch Georges Simenon darum, dem Kriminalroman neuen Glanz zu verleihen, indem er sich um jene eigentümliche Mischung von Realismus und Phantastik bemüht, die sein Werk in so hohem Maße auszeichnet. Heute ist er im Bewußtsein der literarischen Welt längst schon ein „interessanter Autor“, der mit seiner berühmtesten Schöpfung, dem brummigen und Pfeife rauchenden Kommissar Maigret, mehr Ansehen erreicht hat, als es vielen „seriösen“ Autoren im allgemeinen gelingt. Andre Gide, um ihn erneut zu zitieren, nannte Simenon einmal den „bewunderungswürdigsten Autor Frankreichs“, was weiter nicht erstaunlich ist, denn der Weg dieses in vieler Hinsicht legitimen Nachfahren Edgar Allen Poes schlägt eine Richtung ein, die „von der Virtuosität des Alleskönners zur intensiven Konzentration und Vereinfachung führt.“ (Aus einer Untersuchung über Simenons Werk im „Monat“.)

HIER ABER STEHEN WIR vor einem Scheideweg: Wird der Kriminalroman seine Position nicht nur halten, sondern auch weiter ausbauen können, oder wird er wieder in die Bedeutungslosigkeit vergangener Jahrzehnte absinken, ausgeschlachtet von Film und Fernsehen, ein Rummelplatz blutrünstigen Kitsches und gestrichen aus den Listen der Literatur? Ich möchte eher eine positive Antwort geben: Sowohl der Kriminalroman als auch die Detektivgeschichte befinden sich in einem unaufhaltsamen Vormarsch, und dies nicht nur, was ihre Verbreitung und Beliebtheit angeht, denn die standen wohl nie in Frage, sondern auch hinsichtlich der Qualität, um diesen Begriff einmal zu verwenden; ja, ich möchte behaupten, daß man heute am guten Kriminalroman dieselben qualitativen Maßstäbe anwenden muß, wie dies etwa beim modernen psychologischen Roman geschieht, und daß er sich mitten im Aufbruch befindet, sich jene respektable Höhe zurückzuerobern, die er mit Edgar Allen Poe besessen hat.

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