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Nietzsche und die Neue Linke

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Die Neue Linke, schleißig, wie ihre Philosophie im Anschluß an Marx geworden ist, sucht nach neuen Vorläufern. Jede Revolution braucht, indem sie das bisher Gewordene absolut in Frage stellt und zum totalen Untergang bestimmt, die Rechtfertigung in einem gewissen Vorläufertum. Es konnte nicht ausbleiben, daß im Umkreis der Frankfurter Patriarchen der Neuen Linken, Max Horkheimers insbesondere, ein Komitee entstand, das die von Nietzsche propagierte „Umwertung“ der „unbewußten Hoffnung der studentischen Jugend“ von heute hinzufügen möchte.

Es ist noch nicht dreißig Jahre — eine Generation — her, seit Adolf Hitler dem gestürzten Benito Mussolini die gesammelten Werke Nietzsches zum Geschenk machte. Nirgendwo schienen der Wille zur Macht, das heroische Prinzip, die Widerlegung der jüdisch-christlichen Zersetzungstendenz und dergleichen mehr so ausgeprägt und sinnfällig vorhanden zu sein wie im Werk des sächsischen Pastorensohnes aus slawischer Wurzel. Über alle solche Verfestigungen in der bisherigen Denk-und Vorstellungswelt gehen jetzt die Neomarxisten im Westen, aber auch in Jugoslawien, ebenso hinweg wie die geschockten früheren Patriarchen der Neuen Linken: Horkheimer und Marcuse. Das Problem „Entfremdung“ auf die Spitze getrieben, verlangt nach endlosen Interpretationen ein „operatives Denken“ für die Aktion zur Uberwindung des Dilemmas.

Nietzsche und Marx stimmen in der Ausgangslage überein, indem sie es unternehmen, die Metaphysik zu demontieren. Geht man über die zwischen beiden bestehenden Verschiedenheiten der Auffassungen puncto „Basis und Überbau“ hinweg, dann kommt man allerdings rasch in eine Zone, wo das erwünschte Pronuncia-mento vom „Ende der Metaphysik“ stattfinden soll. Die aktuelle Praxis bei der Umwertung der Werte im gesellschaftlichen Prozeß braucht nach dem Wegfall metaphysischer Begründungen neue theoretische Fundamente, da Praxis an sich als Theorieersatz nicht haltbar ist.

Der Autor, Professor an der Pädagogischen Hochschule Münster, erkundet derlei nicht — metaphysische Haltepunkte bei Marcuse, Jaspers, Gehlen. Neue Ansichten über Zusammenhänge zwischen Herrschaft und Moral, Politik und Ethik fluchtet er richtigerweise auf längst Zurückliegendes, letzten Endes auf Piaton ein. Piatons frühe Warnung, eine Demokratie verfalle an und durch sich und: Tyrannei komme nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, mag manches moderne Selbstgewissen schockieren. Nietzsche, dessen Werk der Führer 1943 auf das Grab der politischen Erwartungen des Duce des Faschismus legte, erhebt sich jetzt wie eine Aureole über die Spätkrise der Marx-Renaissance der sechziger Jahre. Und: hoffen nicht auch bereits andere auf den „starken Mann“, der „Ordnung“ machen wird; wenn auch in andere Richtungen?

NIETZSCHE UND DAS ERBE DER EMANZIPATION, von Günther Rohrmoser. Rombach Hochschul-Paperback, Freiburg, 156 Seiten, DM 14.—.

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