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Der Angriff auf das Unbekannte

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ANGRIFF AUF DAS UNBEKANNTE. Das Internationale Geophysikalische Jahr. Eine Darstellung von Walter Sullivan. Forum-Verlag, Salzburg. 431 Seiten. Preis 139 S. - TECHNIK, Band 2 und 3. Von Hälg, Traupel und Jauslin. Reihe Das Fischer-Lexikon. Preis 3.60 DM. - WELT IM WERDEN / DIE ZUKUNFT DES MENSCHEN. Von P. B. M e d a w a r. S.Fischer-Verlag, Frankfurt am Main. 148 Seiten. Preis 3.80 DM. - JAHRE DER ENTSCHEIDUNG. Von Oswald S p e n g 1 e t. Deutscher Taschenbuch-Verlag. Preis 2.50 DM. - DIE GESTALTUNG DES ABENDLANDES. Von Christopher D a w s o n. Fischer-Bücherei. Preis 2.40 DM. - DAS URCHRISTENTUM. Von Rudolf Bultmann. ENTWICKLUNGSHILFE IM ALTERTUM. Von Franz A11 h e i m. DIE ZERRÜTTETE GENERATION. Von Harrison F. S a I i s b u r y. GESCHLECHT UND VERDRÄNGUNG IN PRIMITIVEN GESELLSCHAFTEN. Von Bronislaw Malinowsky. Alle vier Bändchen in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie. Preis 2.40 DM. ~ SEXUALITÄT UND VERBRECHEN. Fischer-Bücherei, Doppelband. Preis 3.60 DM.-DIE WELT DER NEUEN JUGEND. Von Konrad P f a i f. Paperback. Walter-Verlag, Olten-Freiburg. Preis 8.80 DM.

Sullivan, wissenschaftlicher Mitarbeiter der „New York Times“, war einer der Auserwählten, die das Internationale Geophysikalische Jahr in seinem gesamten Verlauf als Berichterstatter miterleben durften. Ihm standen von nicht weniger als 60.000 Wissenschaftlern aus 66 Nationen erarbeitete Ergebnisse zur Verfügung, ein gigantisches Material. Ob er über die Überwachung unsichtbarer Sonnenausbrüche referiert oder über die tiefsten Tiefen, ob er das so lange wie möglich geheimgehaltene „Unternehmen Argus“, die Auslösung von Wasserstoffbomben im Weltraum, schildert, oder ob er darstellt, wie die Forschung dem Problem des Eiszeitalters zu Leibe rückte — in jedem Fall ist die Schilderung nicht bloß spannend, sondern umgreift weitgehend den Bogen der Eingliederung des speziellen Zweiges in das moderne und künftige gesellschaftliche Geschehen auf unserem Planeten. Mit anderen Worten: solcherart populäre Darstellungen bedeuten, entgegen dem anrüchigen Klang solchen Begriffs, das Öffnen ebenso vieler Türen und Fenster zum allgemeineren Verständnis. Dieses „Technik, 2 und 3“ des Fischer-Lexikons

aber tut im Zeitalter höchstgetriebener Spezialisierung not, sollen die einzelnen Sparten des Wissen nicht eines Tages mangels ausreichender Verbindung mit dem nährenden Grund des Allgemeinwissens innerhalb der Bildungsschichten der Völker elend verdorren. Sullivans glänzend geschriebene Zusammenfassung sei deswegen ebenso wie ihrer selbst willen als aufschlußreich für den Laien und Studierenden nachdrücklich empfohlen.

Eine ähnliche Funktion ist den Bänden

nachzurühmen, die diesmal die Riesenkomplexe des Maschinenbaues und der elektrischen Energietechnik umfassen.

In der Einführung zu Medawars „Die Zukunft des Menschen“ (hervorgegangen aus den sogenannten Reith-Vorlesungen des BBC) fällt ein Stichwort, das die Linie unserer kurzen Betrachtungen genau trifft, nämlich das Stichwort interdisziplinär. Damit wird hier ausgedrückt, daß die Humanbiologie ihre Erkenntnis aus diversen Wissenschaften, so aus der Genetik wie aus der Demographie, aus der Anthropologie wie der Soziologie und der Psychologie, bezieht. Medawar stellt sich unter anderem folgende Fragen: „Nimmt die Durchschnittsintelligenz ab? — Kann man die geistigen und körperlichen Fälligkeiten der Menschheit biologisch steigern? — Untergraben Medizin und Sozialhygiene die Tauglichkeit? — Gibt es Zusammenhänge zwischen Intelligenz, Fruchtbarkeit und Familiengröße?“ Die Konfrontation mit derlei Thematik läßt ermessen, wie sehr die einzelnen Sparten des Wissens, die innerhalb jüngster Zeiträume vor

allem auseinanderstrebten, nun, mit den Ergebnissen ihrer Einzelexpeditionen gesättigt, immer wieder zueinander finden, um die verlorene oder scheinbar verlorene Ganzheit wiederherzustellen.

Oswald Spengler Zentralidee von der Eigengesetzlichkeit der Kulturen, die er als etwas einem lebenden (und sterbenden) Organismus Ähnelndes auffaßt, findet sich deutlich umrissen im dtv-Bändchen „Jahre der Entscheidung“. Wir können es heute kaum mehr fassen, welche Stürme — wäh-

rend der Hitler-Zeit mehr des Unheils als des Heils — durch dieses Buch entfesselt wurden, das uns heute eher als Relikt einer überwundenen Periode denn als philosophisches Pamphlet von prophetischer Bedeutung anmutet. Gerade dieses Buch aber, deshalb sei seine Lektüre doppelt angeraten, erweist, wohin sich die Vertreter von Einzeldisziplinen, wie hier der Geschichtsphilosophie, versteigen können, sobald sie den Kontakt mit den übrigen Wissenschaftssparten verlieren.

Sobald wir jetzt „Die Gestaltung des Abendlandes“ von Dawson anführen, der die Linien nachzuzeichnen versucht, innerhalb welcher sich das europäische Mittelalter von der Basis des Römischen Reiches aus entwickelte, erkennen wir plötzlich, wie zwanglos sich die Berührungen von Themen aus den Reichen der Naturwissenschaft und Technik mit jenen der Kultur, Religion und sonstigen Geisteswissenschaften ergibt. Wir sehen plötzlich den roten Faden, der weit hinter Geistern wie Plato oder Aristoteles beginnt und, wie ein präzis gezielter Schuß, in den Errungenschaften der Gegenwart mündet. *

So dürfen wir, so sonderbar dies zunächst scheinen mag, an dieser Stelle Hinweise auf Werke wie „Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“ oder Altheims „Entwicklungshilfe im Altertum“ vornehmen, ohne unserem Zentralthema „Der Angriff auf das Unbekannte“ untreu zu werden, ja es fügen sich die heterogenen Materialien bereits zu erkennbaren Mustern zusammen. Jetzt gehen auf einmal von Büchern wie „Die zerrüttete Generation“ von Salisbury (obengenannte Taschenbücher sämtlich in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie) oder „Die Welt der neuen Jugend“ von Konrad Pfaff, erschienen als Paperback des Walter-Verlages,

Ölten, Blinksignale aus, die uns dahin lenken, akute Generationsprobleme in größere Zusammenhänge zu stellen, wodurch sie, zahlreiche Details und zugleich das Gesamtphänomen betreffend, sowohl an falscher Bedrohlichkeit verlieren, wie an, zum Großteil erst zu erarbeitenden, Zukunftsaspekten gewinnen.

Nehmen wir nun etwa den Band „Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften“ von Malinowsky (Rowohlt-Enzyklopädie) und jenen „Sexualität und Verbrechen“ hinzu (herausgegeben von Bauer, Bürger-Prinz, Giese und Jäger in der Reihe Bücher des Wissens der Fischer-Bücherei), so haben wir angedeutet, zu welchem Gewölbe sich das Gebäude des heute für jeden Verständigen erreichbaren Wissens zu runden vermag. Und wir dürfen es als Auszeichnung empfinden, einer zwar noch zerrütteten (oder aufgeackerten) Generation anzugehören, die, zumindest am fernen Horizont, Bewandtnisse, sagen wir, zwischen den Kräften, die den Menschen antreiben, Kunst zu schaffen, und den Theorien über die Beschaffenheit der Materie aufleuchten sieht, Bewandtnisse zwischen Außenwelt und Innenwelt als zwischen Varianten ein und desselben Schöpfungsthemas, Bewandtnisse schließlich zwischen der Dynamik der Lehre Christi und — nun, beispielsweise der Kybernetik, Da sieht man auch, fast erschrocken, mit welch unheimlicher Treffsicherheit die der Sprache des Menschen immanente Geistenergie auf der Basis von Primärvorstellungen Projektionen in künftige Äonen vornimmt: Kybernetik heißt, um bei unserem Modellbegriff zu bleiben, einerseits jene Forschungsrichtung, die vergleichende Betrachtungen über die Steuerungs- und Regelungsvorgänge in Technik, Biologie und Soziologie anstellt — anderseits ist Kybernetik ein theologischer Terminus im Sinne der Kirchen-und Gemeindeleitung.

Damit sind wir bei der Konklusion angelangt, die wir im Auge hatten, als wir zu solchem Behufe disparat erscheinende Forschungskreise lose zusammenfügten — zu einem Meeting menschlicher Strebungen, die, was immer auch der einzelne bezweckt, dennoch stets nur in Dimensionen und auf Bahnen operieren können, die von der Schöpfung als Tummelplatz für menschliche Energien vorbereitet sind. Als Tummelplatz für unsere „Angriffe auf das Unbekannte“.

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