Das Leben in Konstanten und Variablen

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Ab 20. April öffnet Österreichs "europäisches" Filmfest in Linz seine diesjährigen Pforten. "Crossing Europe" hat sich zu einer fixen Größe in der heimischen Filmszene gemausert.

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Ab 20. April öffnet Österreichs "europäisches" Filmfest in Linz seine diesjährigen Pforten. "Crossing Europe" hat sich zu einer fixen Größe in der heimischen Filmszene gemausert.

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Die typische Dokumentation über ein Filmfestival lässt sich leicht ausdenken. Es beginnt mit leeren Büroräumen und einer Countdown-Einblendung, "Crossing Europe Linz. 20. bis 25. April 2016.300 Tage zur Eröffnung", zum Beispiel. Filmkandidaten werden notiert, Kontakte geknüpft. Das Team nimmt nach und nach die Arbeit auf. Tische werden voll, Wände und Tafeln auch. Filme werden auf dem Spielplan verschoben, Gänge zu Zwischenlagern. Statt geplant wird in der heißen Phase Stress gemanagt. Am Ende steht das Produkt, ein Applaus - und ein Countdown. Das Vorjahr spielt in dieser abgeschlossenen Geschichte keine Rolle, das nächste auch nicht.

Was aber, wenn es das täte? Was wäre der Erkenntnisunterschied, wenn die Kamera fünf, gar zehn Jahre dabei wäre? Die Langzeitbeobachtung bleibt eine der seltensten Spielformen des Kinos. Helena Trestíková, der wohl herausragendsten Vertreterin, widmet Crossing Europe ab kommenden Mittwoch sein Tribute-Programm. In ihren Werken begleitet die 1949 geborene Tschechin Menschen teils über Jahrzehnte hinweg.

So ist es auch im kürzlich fertiggestellten "Mallory", der den Kampf einer Frau festhält, ein "braves Mädchen" zu sein. Einen Tiefschlag nach dem anderen muss sie verkraften: Arbeits-und Obdachlosigkeit, Demütigungen, gewalttätige Beziehungen und eine Ex-Heroinsucht, die sich meldet, wenn sie am Boden liegt. Es entwickelt sich eine Erfolgsgeschichte mit Damoklesschwert, die wie so viele Langzeitdokus einen Schluss findet, aber nicht zu Ende ist. Ist das Leben zu Ende, wenn die Kinder aus dem Haus sind, die Aufgaben getan und der Film fertig? - In "Private Universe", Trestíková ausgedehntestem Projekt, das 37 Jahre abdeckt, philosophieren Protagonistin und Regisseurin letztlich gemeinsam darüber.

Sozialer und politischer Wandel abgebildet

Sichtbar wird durch diese Zeiträume der soziale und politische Wandel. Jener etwa, der sich in den Menschen vom Kommunismus der CSSR über die Samtene Revolution bis zur sogenannten Marktwirtschaft ohne Adjektive vollzog -oder nicht, wie beim Häftling René, der im gleichnamigen Film vor den Ereignissen weggesperrt war. Anschaulich machen das ebenso die "Marriage Stories", eine Serie, mit der Trestíková Jungverheiratete des Jahres 1980 in den 2000ern ein zweites Mal begleitete. Die Neugier, wer noch mit wem zusammen ist, wird davon überlagert, wie sich die Einzelpersonen unterschiedlich entwickelten, was von der damaligen Ehe prägend blieb und wie Gesellschaftsbilder neue Züge annahmen.

"Als ich heiratete, war der Hauptgrund, dass ich ein Kind haben wollte, und für mich hing das zusammen."- was gut aus einer Doku von Helena Trestíková stammen könnte sagt jemand aus einem der wenigen vergleichbaren Langzeitprojekte: "7 Up" versammelte 1964 vierzehn Kinder, um sie von da an alle sieben Jahre über Träume, Hoffnungen und Ängste zu befragen. Inzwischen ist die Reihe unter der Regie von Michael Apted bei "56 Up" angelangt und spiegelt auch den eigenen Wandel: Ursprünglich sollte die Undurchlässigkeit der britischen Klassengesellschaft unter Beweis gestellt werden; später mutierte es zur Personengeschichte.

Fernsehen als Financier der Langzeitprojekte

Die langfristige Finanzierungsbasis solcher Projekte stellt meist das Fernsehen dar - Granada TV bei "7 Up", C eská Televize bei Trestíkovás Werken. Selten gelingt es privat, wie etwa bei Richard Linklaters "Boyhood", der als Spielfilm eine Ausnahmestellung einnimmt: Zwölf Jahre lang drehte der Amerikaner an seinem Werk, in dem Erfahrungen ein Kind formen, und jene der Schauspieler die Charaktere - ein Fluss des Lebens mit Konstanten und Variablen, wie sie Trestíková herausarbeitet. Während die "Up"-Reihe und "Boyhood" nicht in Linz laufen, präsentiert die Tschechin dort neben ihrer Werkschau und "Mallory" auch "Lida Baarová - Doomed Beauty", eine neue Studie über den umstrittenen UFA-Star, die von ihrer üblichen Vorgangsweise etwas differiert.

Eine weitere Langzeitbeobachtung findet sich im Programm von Crossing Europe mit "Return of the Atom": Sie verfolgt den Bau des ersten AKW in Westeuropa seit Tschernobyl, um via Nachbarn, Wanderarbeitern oder Entscheidungsträgern einen katastrophalen Rundumblick zu gewinnen. Tagespolitisches haftet hingegen an einer Doku mit "normal" langem Zeitrahmen, die in Linz ihre Weltpremiere hat: Julia Gutweniger und Florian Kofler fassen in "Brennero/Brenner" die Mischung aus Nicht-,Durchgangs-und Heimatort, die sich in der Grenzgemeinde gebildet hat.

Auch wenn aktuelle Themen die Filmauswahl durchdringen, etwa in der düsteren belgischen Zukunftsvision "Brak", in der die Festung Europa gefallen ist, so zeigt sich die Schau noch mehr interessiert an der Komplexität von Materien. Nicht umsonst dreht und wendet sich in einem der Eröffnungsfilme, Tobias Lindholms "A War", die Aufreger-Schlagzeile vom NATO-Offizier, der Zivilisten das Leben gekostet hat, zum Dilemma eines Vaters, der zwei Familien beschützen muss. Es sind letztlich diese Linien, die Crossing Europe über die Jahre mit seinen nationalen und internationalen Beiträgen, in Schienen wie "Architektur und Gesellschaft" oder den "Arbeitswelten" konsequent verfolgt, und die heraustreten würden, wenn die Kamera zehn Jahre lang drauf bliebe. Wobei sich Wachstum und Wandel eines Festivals abspielen würden, ein Fluss von Themen und Menschen, in dem es Konstanten gibt und Variablen, Personen erscheinen, abgehen oder bleiben, aber auch dieser Strom kein Ende erkennen lässt.

www.crossingeurope.at

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