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Japanische Schattenbilder

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Yokote, Ende Dezember

Die moralischen Zerstörungen, die der Krieg und das öffentliche Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit in Japan hinterlassen haben, haben sich im letzten Jahre etwas gesenkt, sind aber noch erschreckend groß. Eine der düstersten Erscheinungen, die tief in das Volksleben eingreifen, ist das ungeheure Anwachsen des Rauschgifthandels. Nach amtlichen Berechnungen, die das Wohlfahrtsministerium veröffentlicht, ist die Zahl der Rauschgiftsüchtigen auf den japanischen Inseln mit 30.000 zu beziffern. Die Riesensumme von 18 Milliarden Yen (400 Yen — 1 US-Dollar) wird nach ernster Schätzung jährlich in Japan für Rauschgifte ausgegeben. Eine vom Parlament eingesetzte Kommission beschäftigt sich seit Monaten mit einer Untersuchung der Stellen, an denen der Gifthandel in das Land eindringt. Die meisten Narkotika kommen zweifellos aus Hongkong auf dem Seewege herein, zum geringeren

Teile mit Flugzeugen. In Tokio, Osaka, Yokohama und Kobe bestehen ganze Rauschgiftkonzernc unter Führung chinesischer, koreanischer und auch japanischer Geschäftsleute. Sie übernehmen in einem wohlorganisierten Schmuggelverkehr die Konterbande, die zumeist aus Heroin, Morphium und Kokain besteht. Ein Gramm dieser Narkotika wird in den Häfen zum Preise von 2000 Yen, also fünf Dollar, gehandelt. In den Städten verlangt man für jede Spritze 10.000 Yen. Jede Spritze enthält 0,01 Gramm Heroin, gemischt mit Glukose, und kostet gewöhnlich 200 Yen. Es geht allgemein die Rede, daß die Gewinne zum nicht geringen Teil politischer Propaganda zufließen. Eine sensationelle Entdeckung war es, als es sich im Mai 1953 bei der Festnahme eines Chinesen erwies, daß die meisten Rauschgifte aus Rot-China stammen. Die parlamentarische Untersuchungskommission glaubte zwei Gründe als maßgebend für die rasche und unmittelbare Steigerung des Rauschgifthandels anführen zu dürfen: Erstens die erfolgte Freigabe der Narkotika, die in den amerikanischen Armeemagazinen aus der Kriegszeit her lagerten, und zweitens den Niedergang der öffentlichen Moral. Dieser ist durch die ausgebreitete Jugendkriminalität bezeichnet. Sie ist durchschnittlich dreimal so hoch als in den Jahren vor dem Kriege. Besonders auffallend ist, daß von den schweren Sittlichkeitsdelikten 51 Prozent von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren, besonders von Schülern der höheren Mittelschulen, begangen wurden.

Das Absinken der Volksmoral, das namentlich in den Großstädten eine unheimliche, durch offizielle Zahlen belegte Tatsache ist, stellt natürlich die christliche Mission und die christlichen Gläubigen vor schwere Aufgaben. Selbstverständlich gibt es auch eine Kehrseite des Bildes, die heroische Haltung vieler Christen, die sich gegen diese Zustände wehren. Aber man sollte nicht vergessen, wie gering im Verhältnis zur Bevöl- kerungsmenge die Zahl dieser Tapferen hier in Japan ist, und sollte nicht aus dieser oder jener erbaulichen Bekehrungsgeschichte auf das ganze Volk schließen. Man muß die Unsittlichkeit, die weithin das öffentliche Leben wie die Familie vergiftet, als Wirklichkeit sehen. Daraus mag man dann eine Vorstellung von den ungeheuren Schwierigkeiten schöpfen, die heute noch immer der Hinführung Japans zum Christentum entgegenstehen.

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