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Hollywood gerettet — Film tot!

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Der Film, der sich aus dem Kintopp der Stummfilmzeit stufenweise emporgearbeitet hat, scheint mit dem neuen Todd-AO-Verfahren aus Hollywood, das uns jetzt auch in Deutschland beglückt, wieder in den Kintopp zurückzufallen. Ist es nicht ein Jahrmarktsrummel, wenn uns nach Cinemascope und Vistavision, die gerade erst der Retorte Hollywoods entsprungen sind, nunmehr das neue Verfahren des Produzenten Mike Todd mit dreifacher Bildfläche, dreifacher Lautstärke und dreifachen Eintrittspreisen überfällt? Man fragt sich, wohin das führen soll.

Leinwand bei Normalfilm 4X3 m

Leinwand bei Breitwandfilm 5X3 m

Leinwand bei Cinemascope 6X3 m

Leinwand bei Todd-AO-Verfahren 18X 8.40m!

Mag sein, daß die sensationelle Uebersteige- rung des flimmernden Bildes zu einer Auffrischung des Filmgeschäftes führt, und darum geht es wohl auch, denn Hollywood itzt in der Klemme. Bei der Bequemlichkeit des Publikums macht das Fernsehen in Amerika dem Kino scharfe Konkurrenz. Da Hollywoods Film nicht besser ist als Hollywoods Fernsehprogramm, verzichtet man gern auf den oftmals anstrengenden Anmarsch zum Kino und räkelt sich lieber zu Hause im eigenen Sessel vor dem Fernsehschirm.

In München wurde ein neues Lichtspieltheater eröffnet, das mit seiner raffiniert technischen Einrichtung als zweites Theater Europas auf das Todd-AO-Verfahren geeicht ist. Eine viermal größere Lichtstärke wird aufgewendet, um das Bild auf die Riesenleinwand zu werfen, der Filmstreifen ist nicht mehr 3 5, sondern 70 mm breit und der Ton läuft über sechs „Kanäle”, wobei die Stimmen und Geräusche sogar im Rücken der Zuschauer ertönen. Die Filmleinwand ist in ihrer .enormen Breite so stark gebaucht, daß sie den ganzen Gesichtskreis des Zuschauers einnimmt, ja der Zuschauer wird gewissermaßen aus dem Kinosessel gehoben und ins Bildgeschehen gezogen.

Zweifellos sind das Vorzüge des Verfahrens, die eine Entwicklung des Dokumentar- und Kulturfilms fördern könnten, wie ein Vorfilm mit interessanten Beispielen beweist: Der Kinobesucher glaubt, auf einer Achterbahn vom Berg ins Tal zu schießen, daß es ihm wie in Wirklichkeit den Magen umdreht. Oder der Kinobesucher erlebt einen rasanten Flug über den Rocky Mountains, daß er sich, wenn er mit dem Flugzeug in der Kurve liegt, eines Schwindelgefühls nicht erwehren kann. Anderseits wurde bei der Vorführung klar, daß mit der neuen Technik auch überdimensionalen Geschmacklosigkeiten Tür und Tor geöffnet sind: Da sieht sich der Kinobesucher plötzlich in einen wahnsinnigen Motorradfahrer verwandelt, der mit hundert Sachen gegen einen Lastwagen prallt, wobei schwache Gemüter die Augen schließen und voller Entsetzen aufkreischen. (Zwischen den Stuhlreihen des Kinopalastes stehen auf alle Fälle Sanitäter bereit.)

Bisher existieren nur zwei Spielfilme nach dem neuen Verfahren: „Reise um die Welt in achtzig Tagen” und die Cowboy-Romanze „Oklahoma”. Gerade die Spielfilme zeigen gegenüber manchem technischen Vorteil den künstlerischen Abrutsch, zeigen, daß das im gewaltigen Reklamerummel gepriesene Todd- Verfahren den künstlerischen Möglichkeiten des Filmes schädlich ist. Vor allem macht es jede eigenwillige Filmgestaltung und Filmmontage unmöglich, denn die Kamera ist starr geworden wie in den ersten Stummfilmtagen, die Bewegung entsteht nicht mehr durch kühne Kamerafahrten und originelle Schwenkungen — nein —, alle Bewegung muß im Bild sein.

Zwar ist die Vergrößerung gewaltig, aber eine wirkliche Großaufnahme in ihrer dramaturgischen Wirksamkeit, die Seele des künstlerischen Films, ist endgültig abgetan. — Stellen wir uns filmische Meisterwerke, wie Einsteins „Panzerkreuzer Potemkin” oder Charlie Chaplins „Limelight”, im Todd-AO-Verfahren ohne Großaufnahmen, ohne nahegerückte Gesten, ohne symbolische Bildausschnitte vor — nicht auszudenken! In De Sicas „Fahrraddieben” erleben wir an einer Stelle des Films die Großaufnahme zweier Hände, die sich hoffnungsvoll finden und drücken, die Hand eines kleinen Jungen und die schwielige Hand eines Mannes. Nichts weiter als ein Händedruck. Aber können wir auf so etwas verzichten?

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