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Zwischen Dokumentar- und Phantasiefilm

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Eine Eigenheit des Filmes ist, daß er die dokumentarische Wiedergabe von Ereignissen und Dingen mit den Mitteln der „lebendigen“ Photographie ermöglicht. Dem Dokumentarfilm ist daher ein weites Gebiet zugänglich, von der Wochenschau bis zu den Expeditions- und naturwissenschaftlichen Kulturfilmen. Gleichzeitig ist es jedoch möglich, durch phantastische Handlung und reine Filmkulisse nicht nur so durch den Film zu wirken, daß der Zuschauer erkennt, daß es sich hier um reine Erfindung handelt, vielmehr liegt in den meisten Fällen die Gedankenverbindung nahe: Dies ist photographiert — der photographierte Vorgang ist echt und nicht gespielt. Dies wird bewußt vom Filmregisseur benützt, der durch Wiedergabe realistischer Effekte ein Höchstmaß an Wirkungen zu erzielen vermag. Insbesondere der Tonfilm ist durch die Wiedergabe der ganzen Geräuschkulisse von sehr realistischer Wirkung.

Viele Filme, die in Wirklichkeit nur „Spiel-“Filme sind, deren Handlung erfunden ist, sind gleichzeitig jedoch Dokumentarfilme. Eine Meisterleistung an realistischer Wirkung bringt der Film über die Tätigkeit der amerikanischen Roten-Kreuz-Schwester in den ersten Phasen des Krieges gegen Japan, der mit der Räumung der Bataan-Halbinsel und der Kapitulation von Corre-gidor endet: „M utige Fraue n.“ Eine erfundene Handlung mit den üblichen Ereignissen von Krieg und Liebe, dokumentarisch in der Darstellung des Lebens in den Feldlazaretten des Ostasienkrieges. Insoferne mag er das Interesse erwecken, sonst weist der Film neben den typischen technischen Vorzügen des amerikanischen Filmes keine Besonderheiten auf.

Dokumentarisch wirkt „Lenin im Jahre 1918“ trotz seiner sichtlich kolportagehaften Zustutzung auf einige dramatische Ereignisse, zwischen denen viele Diskussionen liegen. Der Eindruck des Dokumentarischen geht in erster Linie auf den Darsteller Lenins zurück, aber auch auf die Wiedergabe der damaligen politischen Lage und der Stim*mung im Volk. Erwähnenswert ein Gespräch zwischen Gorki und Lenin, in weldiem Gorki dem Bolschewismus Grausamkeit vorwirft, wogegen sich Lenin durch die Antwort eines einfachen Maines aus dem Volke wehrt, der sagt, daß man mit den Gegnern des Volkes noch zu milde umgeht; ein Zeichen, wie sehr der Regisseur des Filmes sich bemüht, die Personen zu zeichnen, wie sie wirklich waren und an wesentlichen Problemen nicht vorbeizugehen.

In einem anderen Sinne dokumentarisch wirkt „Die reiche Brau t“, die das Leben in einer ukrainischen Kolchosenwirtschaft zeigt. Man sieht, wie gewirtschaftet und geerntet wird, merkt etwas von der Organisation und sieht vor allem, wie die einzelnen Arbeitsgruppen zu Höchstleistungen aufgestachelt werden, indem sie um den Besitz der Fahne für die beste Ernteleistung verbissen ringen; die große Preisverteilung am Schlüsse der Erntearbeiten zeigt, wie Fahrräder und andere nützliche Geräte an die besten Arbeiter verteilt werden. Es ist schade, daß gegen den interessanten Hintergrund die ganze Handlung stark abfällt.

Auch „G orkis Kindheit“ kann in diesem Sinn als Dokumentarfilm gelten. Aufschlußreich erscheint eine Szene am Fluß, die versinnbildlicht, was Rußland unter Fortschritt versteht: Nach den Bildern der „Wolgaschlepper“ an ihren langen Seilen, müde und taumelnd vor Anstrengung, kommt der Dampfer. „Früher sind wir so gefahren, und jetzt fährt man mit dem Dampfer. So soll die Welt einmal werden.“ Übrigens ist der menschliche Gehalt dieses Filmes, der in der russischen Originalfassung lief, erstaunlich hoch, was wohl an dem zugrunde liegenden Buche Maxim Gorkis liegt.

Es ist nun kein Zufall, daß die sehr realistisch eingestellten Russen den realistischen Film lieben, es entspricht ihrer ganzen Haltung. Bei allem Verständnis für eine spiri-tualistische Haltung, wie sie durch die christliche Grundbildung unseres Volkes gefördert worden ist, liebt der durchschnittliche Kinobesucher dennoch nicht, mit allzu phantastischen Geschehnissen überschüttet zu werden oder auch nur mit Einzelheiten, wie sie nicht in Wirklichkeit vorkommen. Ein gewesener Soldat wird merken, ob die gezeigte Uniform auch richtig ist und wenn sie nur kleine Fehler aufweist, sofort desillusioniert sein. Eine Hausfrau, der man im Film — er mag historisch richtig sein — einen König zeigt, der die Knochen nicht säuberlich auf einen Teller legt, sondern nach hinten wirft, wird sofort dagegen eine Abwehrstellung beziehen und sich sagen: Bei mir macht der das nicht. Die Abwehrstellung wird aber energisch und allgemein, wenn der Film, während er realistisch zu wirken sucht, unwirkliche und unimögliche Dinge bringt, wie etwa in der Art des „Geisterhotels“, in welchem Tote wiederkehren und wie die Lebenden sich geben. Der gesunde Sinn des Durchschnittsbesuchers wittert hier einen Bruch. Nicht, daß die Toten in Wirklichkeit unsterblich sein könnten, wird bezweifelt, sondern daß sie, nachdem sie diese Welt verlassen haben, sich noch immer wie Menschen aufführen können. Ein künstlerischer Einfall muß im Bereich der Phantasie bleiben, wenn er einen phantastischen Ausgangspunkt hat, wird er sehr realistisch, so liegt ein innerer Bruch vor, der dem künstlerischen Einfall das Leben kostet. Es gibt nicht nur Verfälschung des Wirklichen, des Dokumentarischen durch den Film, sondern ebensogut eine Verfälsdiung der zugrunde liegenden künstlerischen Konzeption. In dieser Doppelgesichtigkeit des Filmes die Harmonie beider Elemente herzustellen und zu wahren, ist eine entscheidende Aufgabe der Regie. Der Film liegt immer zwischen dem „Abklatsch der Wirklichkeit“ durch die Photographie und die Tonkulisse und der Phantasie des Künstlers durch Drehbuch, Regie, Spiel und Schnitt des Filmes, wobei aber weder Bild noch Ton ohne den Einfluß künstlerischer Qualitäten bleiben.

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